Nur weil Götterdämmerung drauf steht und es in der neuen Staatsoper stattfindet, heißt das nicht, dass hier eine Oper spielt! Nesterval ist wieder da und hat sich die Nibelungensage vorgenommen: Strenges Handyverbot, 2.5 Stunden ohne Pause, ernste Themen rund um den Klimawandel, ein bisschen Sex und wenig Musik. (Achtung: Nicht barrierefrei!)
Top: Unterhaltsam, super umgesetzt und gespielt, nachdenklich-machend, “in your face”, ohne tatsächlich “in your face” zu sein. Flop: Alkohol in Flaschen & Gläsern zum Trinken und Creme auf die Haut geschmiert bekommen ohne Vorwarnung (was passiert da bei Allergiker*innen oder trockenen Alkoholiker*innen?). Die Altersempfehlung ab 16 Jahren ist definitiv ernstzunehmen.
Was, wenn uns das Wasser ausgeht?
Wann habt ihr das letzte Mal euer Handy für drei Stunden nicht bei euch gehabt? Ich bin ehrlich: Es braucht eine Weile, um sich an die leere Hosentasche zu gewöhnen. Doch ab dem Start-Gong (literally) von Nesterval passiert so viel so schnell hintereinander, dass man fast nicht dazu kommt, die Doom-Scrolling-Addiction zu vermissen.
Mein erster Gedanke war “Na bitte nicht noch ein Stück über das Drama des Klimawandels”. Gleichzeitig kann ich mich eigentlich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Stück gesehen habe, in dem das ein Hauptthema war. Von Anfang an hieß es also: Darauf einlassen – egal, was passiert. Dass hier ein Wandertheater mit viel Publikums-Interaktion auf uns zukommt, war mir klar. Denn ich war in meiner Studienzeit schon einmal bei einer Performance von Nesterval (und begeistert). Für alle anderen sei hier gesagt: Lest euch die Info-Mail wirklich gut durch, damit ihr euch auf das Chaos des immersiven Theaters einstellen könnt.
Knister*Wissen: “Immersives Theater”, wie es Nesterval aufführt, bedeutet: Das Publikum ist Teil des Stücks. Hier ist nicht einfaches Zuschauen angesagt, sondern aktives Mitmachen und -diskutieren. Man wandert durch das Theaterhaus – von der Bühne bis zu den Garderoben – und kann mit einzelnen Charakteren mitgehen.

Das Stück beginnt mit einem nüchternen Gang Backstage. Treppen hinunter, an Garderoben vorbei, Treppen hinauf, auf die Bühne und brav nebeneinander aufstellen. Wir sind der “Menschenrat” und müssen entscheiden, was mit unserer Welt passiert. Das Bestehen der Welt, beziehungsweise der Menschheit, wie wir sie kennen, ist davon abhängig, wer am Ende den goldenen Ring bekommt. Denn dieser Ring kontrolliert das Wasser – und Wasser ist das neue Gold.
Götter & Menschen im Bunker: Wir gegen alle, für uns.
Worum geht’s?
Österreich, 2038: Wir befinden uns kurz nach dem vierten großen Blackout. Im ersten Wiener Wasserkrieg haben die Steiermark und Niederösterreich um die Wasserrechte der Donau gekämpft, die Weltpopulation ist auf unter eine Milliarde gesunken. Kein Internet, kein Strom, Dürre und Hitze. Wasser ist das neue Gold. Nun müssen die Menschen entscheiden, wie es weitergeht, denn die Götter mischen sich nicht mehr ein… oder nehmen es sich wenigstens vor.
Die Figuren sind direkt aus der Wagner-Oper und der Nibelungensage genommen. Aber natürlich nicht 1:1, sondern abgeändert und teilweise gender-swapped: Erda wird immer zerbrechlicher, sie geht gemeinsam mit der Erde unter. Wotan, die Göttermutter, schaut nur auf’s Geld, aber nicht so sehr wie Alberich Nesterval, Chef der Firma Nestléval (ha ha ha), der das Wasser privatisiert hat. Sigfrid hat nur Augen für den Walkür Brünhild, gibt ihm den Ring zur Verwahrung und heiratet dann aber doch jemand anders. Am Ende müssen die Menschen entscheiden, wie es weiter geht: Großer Luxus für Wenige, oder ein einfaches, aber sicheres Leben für alle?
Intrigen, große Egos, Liebesgeschichten, eine Wanderung vom NEST in die Albertina Modern nebenan, eine Verführung im Traum, das Leben im Bunker: Nesterval gibt alles und verwandelt diese 2.5 Stunden in eine tatsächliche Zeitreise. Schon geil – auch wenn es am Ende wenig mit Oper oder Musik zu tun hat. Ungewohnt für die “Neue Staatsoper”, gleichzeitig auch mal erfrischend.

Zur Performance selbst: Göttlich & stimmig, durch und durch.
Die drei Flussgöttinnen waren, literally, göttlich. Marius Valente hat als Ex-Influencerin Wellgunde durchgehend Handcreme bei sich, schmiert alle um sich herum ein und vermisst die “guten alten Zeiten”, in denen sie millionen Follower*innen begeistern konnte. Claudia Unterweger deckt als Woglinde die wissenschaftliche Seite ab und achtet in der Theorie nur auf Fakten – in der Praxis ist ihr aber leicht zu schmeicheln. Julia Fuchs spielt die esoterisch angehauchte Floßhilde, die an jedes Wort des Orakels glaubt. Die drei “Schwestern” haben eine spannende Dynamik, sie ergänzen sich wahnsinnig gut im Spiel.
Bei allem hin und her ist außerdem Stefan Pauser als Fasold im Gedächtnis geblieben: Der Architekt ist wohl einer der Charaktere, bei dem jede*r einmal im Lauf des Wandertheaters vorbeikommt. Zwischen Depression (oder ist es Gleichgültigkeit, weil er nichts Großes mehr erschaffen kann?), Aggression, Trunkenheit und Schmeicheleien ist es fast furchteinflößend, in seinem “Büro” zu sitzen – wenn man nicht Teil seines engsten Kreises ist.
Das Nesterval-Ensemble wurde 2011 von Martin Finnland und Teresa Löfberg gegründet. Sie übersetzen Klassiker der Literatur-, Kino- oder Theatergeschichte in die Gegenwart – deconstructed und übertrieben. Erfahrungsgemäß sind die Vorstellung absurd schnell ausverkauft. Wer sich Nesterval einmal ansehen will, sollte ein Auge auf die Website & Social Media haben und schnell sein.
Generell war der gesamte Cast top und hat uns als Zuschauer*innen in ihre Welt hineingezogen. Christopher Wurmdobler als zerbrechliche Erda mit Luftballon (Seherin & Mutter der Normen), Anne Wieben als überzeugender, emotionaler Wotan (Herrscher der Welt, quasi Chef von Valhall) und Alkis Vlassakakis als der geldgierige Alberich Nesterval bildeten ein starkes Trio der Leadership-Ebene. Martin Walkner (Brünhild, Tochter von Erda) und Willy Mutzenpachner (Sigfrid, Enkel von Wotan) sind das perfekte nervige Liebespaar, denen alles egal ist, solange sie zusammen sein können.
Auch der Rest der Familie – irgendwie sind alle verwandt, gebt Richard Wagner die Schuld – leistet Beeindruckendes. Rita Brandneulinger (LoKI, Halbgott & Vertrauter Wotans), Johannes Scheutz (Waltraude, Walküre & Schwester Brünhilds), Gellert Gerson Butter (Gunther Gibichung, Anführer der Gibichungen), Eva Deutsch (Krimhild “Gutrune” Gibichung) und Claudia Six (Hagen Gibichung, Sohn Alberichs) und Martin Finnland (Urd) sorgen für Zwiespalt wo sie nur können und sind in jede Handlung verwickelt. Laura Athanasiadis (Donner) geht auf in ihrer Rolle als Göttin der Gewalt und des Zornes, sie ist von Anfang an skeptisch. Laura Hermann überzeugt als Mime (Schmied & Bruder Alberichs) selbst mich, mich für den Luxus zu entscheiden. Und das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper bringt, wenn sie mal zu hören sind, eine großartige Abwechslung hinein.