THE BOYS ARE KISSING – Volkstheater ** Die Hüpfburg der Realitäten

Zwei Familien mit zwei unterschiedlichen Realitäten begeben sich auf die Luftkissen der Fehltritte unserer heutigen Zeit. Zum Glück eilen Schutzengel aus dem Himmelsorden der queeren Wächter:innen zur Hilfe.

Was passiert, wenn zwei Familien aufeinander prallen und das mit einer Reihe an humorvoll inszenierten Klischees auf die Bühne gebracht wird?

Mit THE BOYS ARE KISSING schrieb der britisch-iranische Zak Zarafshan eine bitter-süße Komödie, die genau diese Kontraste in Frage stellt. Am Volkstheater hat nun Martina Gredler das Stück als deutschsprachige Erstaufführung inszeniert. Das 2023 in London uraufgeführte Stück ist eine queere Interpretation von Yasmina Rezas Gott des Gemetzels: Zwei Elternpaare treffen sich wegen eines Vorfalls zwischen ihren Söhnen.

Zwischen Vorstadtidylle, Eltern-WhatsApp-Chats und den Interventionen zweier queerer Schutzengel entwickelt sich ein Abend, der treffend die Widersprüche unserer Gegenwart auf die Bühne holt. Das Spektrum des Stückes reicht dabei von familiären Konflikten bis hin zu Fragen queerer Identität und lässt nichts anbrennen.

Knister*Wissen: Zak Zarafshan ist ein britisch-iranischer Dramatiker und Drehbuchautor, der in London lebt. Mit THE BOYS ARE KISSING legte er 2023 sein gefeiertes Debüt-Stück vor. Zarafshan thematisiert in seinen Arbeiten häufig queere Identität, familiäre Konflikte und gesellschaftliche Normen – mit Humor, Ironie und surrealen Elementen.

Nick Romeo Reimann und Luca Bonamore bei ihrer Perfomance (c) Marcella Ruiz Cruz

Wackelige Angelegenheiten

Der Abend beginnt mit einer Musikeinlage und dem Aufblasen eines grünen, riesigen Luftkissens, auf dem sich die Darsteller*innen bewegen werden. Man fragt sich, was jetzt passieren wird. Vier Personen in kleinen Lufthäuschen erwachen auf dem Luftkissen, das sich über die ganze Bühne erstreckt. Das Licht geht an und peinliche Stille breitet sich im Raum aus. 

Sarah (Karoline Marie Reinke) beginnt mit unbeholfenen Eisbrechern, die Stille zu durchbrechen und sofort wird das Fremdschämen spürbar. Sarah und Matt (Simon Bauer), das heterosexuelle Paar, sind nervös: Die neunjährigen Söhne der beiden Familien haben sich auf dem Schulhof geküsst, was Matt in Unruhe versetzt. Deswegen sollen sie ein klärendes Gespräch mit Amira (Nancy Mensah-Offei) und Chloe (Katharina Kurschat), dem lesbischen Elternpaar, führen. 

Matt und Sarah versuchen ihre Aufregung hinter vorsichtigen, mit Vorurteilen gespickten Bemerkungen zu verstecken, während die Spannung zwischen den Familien mit jeder Sekunde wächst. Die schwangere Amira setzt sich dabei energisch für ihre Familie ein und konfrontiert die Vorurteile, während Chloe versucht, die Wogen zu glätten. Auf wackeligem Boden befinden sich aber alle und genau das hat Sophie Lux, die Bühnenbildnerin, mit dem Luftkissen als Bewegungsraum symbolisiert. 

Nancy Mensah-Offei und Katharina Kurschat (c) Marcella Ruiz Cruz

Klitoris und Analis sorgen für queeres Gleichgewicht

Doch das scheinbar größte Problem – der Kuss der beiden Jungs auf dem Schulhof – löst nicht nur Spannungen zwischen den Familien aus. Er entfacht auch ein soziales Drama. So groß, dass schließlich die beiden Engel Klitoris (Luca Bonamore) und Analis (Nick Romeo Reimann) zur Erde geschickt werden, um das queere Gleichgewicht wiederherzustellen.

Schon in den ersten Szenen werden die Zuschauer*innen zu Zeug*innen der unterschiedlichen Familiendynamiken, der individuellen Konflikte und der Einflüsse der Umwelt. Schule, Nachbarn und die gesellschaftlichen Erwartungen tragen ihren Teil zu Missverständnissen und Komplikationen bei.

Die Schauspieler*innen führen mit viel Witz und Energie durch den Abend. Karoline Marie Reinke bringt als Sarah die Klischees mit Humor perfekt rüber, während Simon Bauer als Matt zwischen Macho-Gehabe und Unsicherheit schwankt. Nancy Mensah-Offei sorgt als Amira mit ihrer starken Präsenz immer wieder für klare Ansagen. Katharina Kurschat zeigt mit Chloe eine Figur, die zunächst versucht, das Chaos rundherum zu managen, im Laufe des Abends aber zunehmend klar Stellung bezieht. Den größten Spaß bringen Luca Bonamore und Nick Romeo Reimann auf die Bühne, die als Engel das Publikum mit ihren Performances ständig zum Lachen bringen.

Popkultur mischt mit – Camp und Queen

Die Kostüme von Moana Stemberger: Camp pur und ein Hauch 70s. Gerade passend zum Bühnenbild. Auch beim Rollenwechsel der Engel, bei dem sie in die Körper der Angehörigen schlüpfen, sind die Kostüme ebenso instabil und luftig wie der Boden.

Knister*Wissen: campe Figuren (im Theater) sind Charaktere, die bewusst übertrieben, theatralisch, schrill oder ironisch dargestellt werden. Sie nutzen Klischees, spielen mit Künstlichkeit und Überzeichnung und haben oft eine humorvolle, absurde oder extravagante Wirkung

Analis (Nick Romeo Reimann) als verstorbener Vater von Matt (Simon Bauer) (c) Marcella Ruiz Cruz

Vom verstorbenen Vater von Matt bis zur aufmerksamen und der vielleicht zu direkten Mutter von Amira: Die Engel (in den Körpern der Angehörigen) versuchen den Familien den Weg zu weisen. Die Kostüme sind ein Sinnbild der Rollen. Besonders auffällig ist der bissige Chihuahua (als Kostüm). So verkörpert Analis, eine Mutter des Elternbeirats der Schule. Den Höhepunkt aber liefert der Zeitsprung am Ende. Die Engel schlüpfen in die Rollen der erwachsenen Söhne, bringen diese in die Gegenwart und machen den Eltern gnadenlos klar, was sie von ihrem Verhalten halten.

Popmusik und Popkultur begleiten das Geschehen permanent. “Coldplay” und Referenzen aus der Serie “A Handmaid’s Tale” bis hin zu “Queen”-Einlagen verstärken Komik und emotionale Momente. Slapstick, Wortwitz und die  campen Figuren machen das Stück zu einem unterhaltsamen, zugleich nachdenklichen Erlebnis.

So wird THE BOYS ARE KISSING zu einer charmant-absurden und zugleich emotionalen Betrachtung von Familie, Diversität und gesellschaftlichen Normen. Dabei kann jede Person etwas von diesem Theaterstück mitnehmen.

Infos und Termine findet ihr hier.

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