Aus fünf Gesetzesbrecherinnen sollen wieder fleißige und fürsorgliche Frauen werden. Um das zu erreichen, landen sie in Teufels Küche.
Früher war alles besser, oder? Das Gras war grüner, der Sommer länger und das Geld mehr wert. Damals, da waren Frauen noch Frauen und Männer waren Männer. Und um dieser “guten alten Zeit” zu huldigen, lässt man im Kosmos-Theater fünf Frauen XXL-Herdplatten putzen. Hach, da wird man gleich nostalgisch!
Im Stück “Retrotopia” sind die Darsteller*innen Thea Ehre, Irem Gökçen, Tamara Semzov, Birgit Stöger und Katarina Maria Trenk unfreiwillige Teilnehmerinnen eines “Normierungsprogramms”. Sie alle haben größere oder kleinere Vergehen begangen. Zum Beispiel Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch oder versehentlich am Amt gegendert. Jetzt müssen sie umerzogen werden, um wieder als fleißige, fürsorgliche und fruchtbare Frauchen zu dienen.
Draußen herrscht nämlich das strengste Patriarchat. Dort ist die Rollenverteilung glasklar, Vergewaltigung in der Ehe ist wieder erlaubt und geschlechtsangleichende Operationen waren mal zulässig, sind aber wieder verboten. Man lebt nach Leitmotiven wie “Nach dem Putzen ist vor dem Putzen” und übt sich in Unterlegenheit gegenüber Männern. Der Aufbruch ins Gestern ist angesagt.

Theater und Journalismus vereint
Geschrieben wurde die beklemmende Satire vom Institut für Medien, Politik und Theater. Das Theaterkollektiv um Regisseur Felix Hafner, Dramaturgin Emily Richards und Journalistin Anna Wielander erschafft Stücke an der Schnittstelle von Theater und Journalismus – sogenanntes Recherchetheater.
Im Rahmen von aufwändigen Rechercheprozessen, Interviews und Hintergrundgesprächen mit Expert*innen entstehen Werke, die komplexe und gesellschaftsrelevante Themen auf die Bühne bringen. Vor “Retrotopia” waren das zum Beispiel “Nestbeschmutzung” (2024) oder “I am from Austria” (2023).
Knister*Wissen: Eine Satire ist eine Kunstform, die gesellschaftliche, politische oder kulturelle Missstände sowie Personen oder Ereignisse kritisch darstellt. Sie arbeitet meist mit Stilmitteln wie Übertreibung, Ironie oder Untertreibung. Ziel ist nicht nur Unterhaltung, sondern auch Kritik oder Provokation. Satire tritt häufig nach oben – richtet sich also gegen mächtige Institutionen oder Personen, kann aber ebenso andere gesellschaftliche Bereiche ins Visier nehmen.

Stylisch in der Küchen-Zelle
Passend zur steinzeitlichen Mentalität der Außenwelt tragen die Schauspieler*innen eine Art Lendenschurz. Jede hat ihn in einer anderen Farbe über ihre weiße, flatternde Hose gebunden. Dazu transparente Badelatschen und rote futuristische Brillen. Stilbewusst durch die Krise also. Das ist den Einfällen von Marie Sturminger zu verdanken, die neben den Kostümen auch das Bühnenbild designte.
Sie steckt die Protagonist*innen in eine finstere Küchen-Zelle, die kaum Ablenkung bietet. Auf mich wirkt die Bühne wie eine sehr minimalistische Raumstation, pulsierende Elektro-Musik durchflutet den Raum (Musik: Katarina Maria Trenk). Neuzugänge werden mit flackerndem Licht hinein gebeamt – ein cooler Effekt.
Dann folgt direkt der Ganzkörpercheck der neuen Insassinnen: Wie lang sind die Haare, wie symmetrisch die Brüste, wie tief die „Radikalitätsfalte“ aka Zornesfalte zwischen den Augen? Anhand dieser Falte lassen sich Feministinnen schnell erkennen – die sind ja bekanntlich immer mies gelaunt. Auch sonst ist das Programm voll: Bei Tagesordnungspunkten wie dem “Mansplaining-Training” sollen sie zum Beispiel üben, sich von Männern dankbar die Welt erklären zu lassen.

Trad-Wife vs. aufmüpfige Feministin
Das Stück punktet mit Kreativität und Vielseitigkeit, das Ensemble harmoniert. Da gibt es zum Beispiel die zynische und ein bisserl grantige, aber nicht weniger pflichtbewusste Gruppenälteste “Old”, die überzeugend von Birgit Stöger gespielt wird. Katharina Maria Trenk zieht als Main-Act in Performances zu Songs wie “Trophy Wife” alle Blicke auf sich.
Knister*Wissen: Als “Trad Wife” werden Frauen bezeichnet, die bewusst das Leben einer traditionellen Ehefrau führen. Trad Wifes stehen für ein konservatives Rollenbild: Der Mann geht einer bezahlten Erwerbstätigkeit nach, die Frau kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. Große Bekanntheit erlangte die Trad-Wife-Bewegung auf Social Media – Nara Smith ist ein prominentes Beispiel. Der Begriff “Trophy Wife” ist meist abwertend und steht für eine attraktive, junge Frau, die einen älteren und wohlhabenden Mann heiratet und zu dessen “Statussymbol” wird.
Irem Gökçen wurde in der Vorstellung, die ich besuchte, von der Darstellerin Aline-Sarah Kunisch vertreten. Sie ergänzt das Gespann als zunächst sehr kühles, regelkonformes Mitglied. Zum Beispiel lobt sie die quirlige Insassin “Wifey” (Thea Ehre) für ihre perfekten Maße und ihren Gehorsam. Thea Ehre (2023 erhielt sie den “Silbernen Bären” bei der Berlinale) verkörpert die patriarchale Musterschülerin mit Hingabe. Als Trad-Wife hält sie ihrem Mann den Rücken frei und versorgt nebenbei noch die fünf Kinder Sidney, Sweeney, Jeremiah und Co. Im Kosmos-Theater hüpft sie mit sonnigem Gemüt über die Bühne, beseitigt gleichzeitig die Unordnung und versprüht echte Main Character Energy. Im krassen Kontrast dazu: Tamara Semzov – die aufsässige Feministin schlechthin – die mit dem Spitznamen “Stress” auftritt und makellos abliefert.
Beklemmend und brandaktuell
Das Institut für Medien, Politik und Theater entführt uns mit “Retrotopia” in eine Dystopie, die eigentlich keine ist. Denn was im Stück besprochen wird, ist erschreckend nah an unserer Realität. Zum Beispiel ist in Niederösterreich das Gendern mit Stern, Doppelpunkt, Gap oder Binnen-I in offiziellen Dokumenten seit dem 1. August 2023 verboten. Die Vergewaltigung in der Ehe wurde erst im Jahr 1997 strafbar. Um das Recht auf Abtreibung wird seit jeher erbittert gekämpft.
Und während sich Irem Gökçen/Aline-Sarah Kunisch selbst die aufgeplatzte Zyste im Unterleib operiert, erzählt sie gleichzeitig davon, dass sie im Medizinstudium kaum etwas vom weiblichen Zyklus oder von Endometriose gehört hat. Das ist eine Kritik daran, dass der Frauengesundheit lange Zeit eine untergeordnete Rolle zugewiesen wurde.
Apropos untergeordnet: Wer hat eigentlich den Mythos der weiblichen Unterlegenheit in die Welt gesetzt? Gab es dieses “Früher”, auf dem das neue Heute aufbaut, überhaupt? Auch darüber diskutieren die Protagonist*innen.
Generell wird in “Retrotopia” viel geredet und reflektiert. Action gibt es im Vergleich dazu wenig. Wirklich etwas bewirken können die Frauen in ihrer Isolation eben nicht. Das spiegelt aber auch die frustrierende Gegenwart wider: Während auf der einen Seite die Menschen stehen, die für Gleichberechtigung und Menschenrechte kämpfen, arbeiten rechte und rechtspopulistische Strömungen mit aller Kraft dagegen – Stichwort USA.
Alles auf Anfang
Irgendwann mündet alles in einen feministischen Streik, bei dem sich Frauen verweigern. Ob das jetzt tatsächlich passiert oder bloß Wunschdenken ist, bleibt mir unklar. Berichtet wird vom Aufstand jedenfalls unter dem Esstisch. Durch das Zusammenspiel von Licht und Schatten sieht das Publikum, wie die Fünf ihre Köpfe zusammenstecken und vom Zusammenbruch der Säulen des Patriarchats berichten. Da sind die Väter, die plötzlich ratlos vor dem Wäscheberg und dem schreienden Kind stehen und nicht wissen, wo dieser verdammte Hut sein soll, unter den das alles passt. Auch die Büros, Geschäfte und Krankenhäuser können das Tagesgeschäft ohne Frauen nicht aufrechterhalten.
Langfristig ändert die weibliche Verweigerung aber nichts. Ein deftiger Backlash fegt über alle Errungenschaften hinweg. Auf dem Schutt der verstaubten Lebensordnung wird routiniert wieder die gleiche aufgebaut.

Nostalgie am Arsch!
Befreit zu lachen fällt bei diesem Stück wirklich schwer. Vielleicht holt uns “die gute alte Zeit” schneller ein, als uns lieb ist. Dann wird das Gestern zum Morgen und das Früher zur Zukunft – wie im Stück. Die Message ist (für mich) jedenfalls klar: Nostalgie am Arsch!