Blinde Geister – Lina Schwenk ** Dieses Buch tut weh

Blogheader Blinde Geister (c) Heike Bogenberger

Mit ihrem Debütroman „Blinde Geister“ schaffte es Lina Schwenk auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Darin legt sie den Blick darauf, wo es unangenehm ist: auf die Kriegstraumata einer ganzen Generation.

„Aber ich will das Gesagte hören, ich weiß, es gibt die eine Geschichte, die ich noch brauche, die noch kommt, wenn ich weitersuche.“

Nicht Mama oder Papa, sondern Rita und Karl nennen die Protagonistin Olivia und deren Schwester Martha ihre Eltern. Sie wachsen im Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre auf und verbringen viel Zeit im Keller ihres Hauses. 

Dorthin flieht Karl mit seiner Familie immer wieder, wenn ihn die Erinnerungen an den Krieg, den er als Soldat hautnah miterlebte, einholt. Olivia scheint zunächst nur eine Kindheitserinnerung damit zu verbinden, bis sich herausstellt, dass dem nicht so ist. Der Keller und somit auch der Krieg sind für sie omnipräsent.

Irgendwo ist immer Krieg

Während die Ich-Erzählerin durch den zweigliedrigen Hauptteil der Geschichte führt, beginnt der Roman im Prolog mit Karl im Keller und endet im Epilog mit Ritas Sicht auf die Dinge. Durch die distanziert wirkende Erzählerin fällt es schwer, eine Verbindung zu ihr aufzubauen. Dies spiegelt sich in Olivias Gedanken und Gefühlen zu ihren Eltern wider. Insbesondere zu ihrer Mutter Rita hat sie eine distanzierte Beziehung. Sie sehnt sich nach der Nähe der Mutter, wünscht sich Umarmungen und Liebkosungen. 

Der Debütroman „Blinde Geister“ von Lina Schwenk. (c) Heike Bogenberger

Rita bleibt jedoch auf Abstand, scheint für die Tochter nicht erreichbar zu sein. Sie wirkt kühl und rational. Den Gegensatz dazu bildet der Vater Karl. Er ist undurchdringbar und leidet mal mehr, mal weniger offensichtlich an seinen Kriegstraumata. Darüber sprechen kann er nicht – vor allem nicht mit den Töchtern. Dafür sind sich Rita und Karl so nahe, als wären sie eine Einheit, eine Person. Besonders Rita versteht ihren Mann wortlos. Sie versteht, dass es rational nicht zu erklären ist, wann er in den Keller geht. Sie trägt seine Kämpfe aus und versucht dabei verzweifelt, die Familie zusammenzuhalten.

„Wenn Familie zerbricht, macht es kein Geräusch. Es ist, als würden die Wolken sich trennen.“

Bereits als kleine Kinder werden die Schwestern mit in den Keller genommen, als Schutz vor den vermeintlichen Bomben. So erfahren sie die Härte des vergangenen Kriegs immer und immer wieder. Während sich Martha dagegen wehrt, die Situation als absurd und ihren Vater als verrückt wahrnimmt, saugt Olivia alles in sich auf. Sie verinnerlicht das „Spiel“ als Realität und ähnelt Karl immer mehr.

Sanft und eindringlich

Lina Schwenk ist mit diesem Roman ein Meisterwerk gelungen. Eindringlich und sanft, dabei stets klar, beschreibt sie die Geschichte dieser Familie in all ihren Facetten. Langsam baut sie die Geschichte auf, zeigt mit Rückblenden und Einschüben die ganze Tragweite auf. Ihre Figuren sind komplex und vielschichtig, greifbar und gehen nahe. Die Geschichte plätschert vor sich hin, stockt nicht und wird stellenweise um wichtige Themen ergänzt. Etwa, als Olivias Wahnvorstellungen sie zum zweiten Mal in die Psychiatrie bringen und ihre Einsamkeit thematisiert wird.

„Ich weiß, ich werde so lange weglaufen, bis ich nicht mehr alleine bin.“

Geisterhaft wandert der Krieg zwischen den Zeilen dahin. Er nimmt in Olivias Großmutter und Karl als Erster und Zweiter Weltkrieg Form an und wird als Ukraine-Krieg direkt angesprochen. Dabei bleibt die Sprache sachlich, wird niemals emotional. Gleichzeitig lockert gekonnte Situationskomik den Text auf und verleiht ihm eine gewisse Leichtigkeit. 

Erst im Laufe der Geschichte werden Olivias Narben sichtbar. Spuren von den Nächten im Keller, Karls Abwesenheit, Ritas Kühle und den Turnstunden, in denen der Lehrer sie in Schützengräben aus Bänken klettern und von Kugeln aus Tennisbällen erschießen lässt. 

Sie zeigen sich auch in den Gesprächen mit ihrem Mann Paul. Dessen Vater bildet einen starken Kontrast zu Karl, indem er ständig über den Krieg spricht. Auch mit ihrer Tochter, Ava, gerät Olivia an ihre Grenzen, wenn diese den Krieg nicht so ernst nimmt wie sie selbst. Dabei hat keine der Frauen Krieg am eigenen Leib erlebt.

„Alles wiederholt sich, vor und zurück“

Lina Schwenk erzählt überzeugend vom Trauma einer ganzen Generation und wie es sich wie Gift auf die nächste überträgt. Mit Olivias Zerrissenheit zeigt sie die Suche nach Zugehörigkeit und die eigenen menschlichen Ängste präzise auf und stellt dabei essenzielle Fragen. Sie erzählt vom Hinsehen und Aushalten, vom Schweigen und Anderssein. Und das auf so eindringliche Art und Weise, dass es weh tut.

Lina Schwenk, „Blinde Geister“. € 24,- / 191 Seiten. C.H.Beck, München 2025.

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