Zirkus des Horrors ** Leider kein Albtraum!

Der “Zirkus des Horrors” gastiert in Wien. Er sollte aber besser “Zirkus der Geschmacklosigkeit” heißen. Femizide, Suizide und religiöse Anspielungen haben im Zirkuszelt nichts verloren – und überschatten die grandiose Leistung der Artist*innen.

Achtung: Dieser Text behandelt Themen wie Gewalt an Frauen oder Suizid.

Als ich das Plakat mit dem Sensenmann auf einer Litfaßsäule erspähe, werde ich sofort neugierig. „Zirkus des Horrors“ – noch nie gehört. Also kaufe ich zwei Tickets für die Show “Memento Mori – Deine letzte Stunde”.

Meine Erwartungen als Horror-Fan sind groß: Hexen auf dem Trapez, Schwert-schluckende Zombies, Dracula, der Feuer speit. Sowas halt. Nach Hause gehe ich mit einem Kloß im Hals und dem Gedanken: “War DAS wirklich nötig?”

Große Erwartungen

Dabei hat alles so schön angefangen. Im rot-schwarzen Zirkuszelt sieht alles genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe: Der ganze Eingangsbereich stellt einen gruseligen Dorfplatz dar – inklusive Spinnweben, Skelette und Grabsteine. Auch die Snack-Häuschen sowie die Verkäufer*innen passen zum Motto. 

Während der Show steht mir der Mund offen: Die Zirkuskünstler*innen räkeln sich, als wären sie wirbellos, schweben wie schwerelos über meinen Kopf oder springen gekonnt auf dem rotierenden “Teufelsrad”. Als fünf Motorradfahrer in eine Eisenkugel steigen und darin kreuz und quer herumfahren, glaube ich, bald Zeugin eines schrecklichen Unfalls zu werden.  Passend zu meinem schnellen Puls zischt energiegeladene Musik aus den Lautsprecherboxen. Die Kostüme sind aufwendig und detailverliebt. Und lustig war’s auch: Zum Beispiel, als der “Pausenclown” aka Feuerkünstler mit einem extrem hohen Plateauschuh durchs Publikum humpelt, um dann in der perfekten Pose beim Gitarre spielen in Flammen aufzugehen. 

Kostüme, Bühne, Musik: Alles top! (c) Zirkus des Horrors / Natalia Kempin

Zirkus neu interpretieren

Nach den einzelnen Performances folgen immer wieder Szenen, in denen die Darsteller*innen verschiedene Rollen spielen. Sie erzählen die Geschichte eines Mannes, der vom Sensenmann abgeholt wird. Als Toter reflektiert er über seine Vergangenheit und all die Fehler, die er begangen hat. 

Auf die Neuinterpretierung des herkömmlichen Zirkusses und “ungewöhnliche Konzepte” hat sich der “Zirkus des Horrors” spezialisiert. Er wird seit 2013 vom Unternehmen Romanza Circusproduction gestaltet und feiert heuer Premiere in Österreich. Bereits mit dem Kauf eines Tickets soll man “in eine andere Welt” eintauchen.

Realer als gedacht

Das ist aber leider nicht gelungen. Was während der zweieinhalbstündigen Show gezeigt wird, ist teilweise erschreckend nahe an der Realität. Relativ zu Beginn quatscht ein Darsteller eine Artistin an, die aber offensichtlich ihre Ruhe haben will. Ihre “Neins” ignoriert er, dann bringt er sie um. Anschließend folgt ihr Auftritt als gelenkige Untote. Die Ermordung wird nicht bloß angedeutet, sondern es gibt einen richtigen Todeskampf. Wo waren die Content Warnungen nochmal? Ich war auf schaurige Unterhaltung eingestellt, nicht darauf, die Lebensrealität von Frauen serviert zu bekommen.

Auch die folgende Szene werde ich niemals vergessen: Aus einer Wiege kreischt ein (nicht vorhandenes) Baby. Die Mutter tröstet es, während der Vater auf dem Fernsehsessel schläft. Als ihn die Frau danach weckt, um sich über seinen fehlenden Einsatz zu beschweren, wird er gewalttätig. Was danach folgt, ist eine schwer erträgliche Abfolge an Ereignissen. Der Mann schlägt die Frau, schubst und schleudert sie hin und her. Sein Moment der Reue kommt zu spät: Sie hat sich erhängt. Danach bringt er sich selbst um.

All das haben die Artist*innen auf Rollschuhen vorgeführt. Schließlich hängt die Frau tatsächlich nur mit ihrem Kopf im Seil. Gelegenheit, um diese unfassbare Leistung zu würdigen, habe ich kaum – ich bin vor allem geschockt.

Nach dieser Performance konnte ich nicht mitklatschen: Viel zu realistisch! (c) Zirkus des Horrors

Wo sind die Content- & Trigger-Warnungen?

Die Zahlen zeigen es: Gewalt gegen Frauen ist ein weit verbreitetes Phänomen in Österreich. Jede dritte Frau ist mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt. Rund 23,47% der Frauen im Alter von 18 bis 74 Jahren haben ab dem Alter von 15 Jahren körperliche Gewalt – innerhalb oder außerhalb intimer Partnerschaften – erlebt. 

Knister*Wissen: Die Ergebnisse stammen aus der Erhebung „Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und andere Formen von interpersoneller Gewalt“ (2021). Diese wurde von Eurostat und dem Bundeskanzleramt in Auftrag gegeben. 

Österreich hat außerdem eine hohe Rate an Femiziden: 2025 wurden bereits elf Frauen ermordet (Stand: 17. September). Ein Femizid bezeichnet die Tötung einer Frau oder eines Mädchens aufgrund ihres Geschlechts. Darunter fällt also nicht jede Tötung einer Frau, sondern solche, bei denen geschlechtsspezifische Motive – etwa Frauenhass, Besitzanspruch, Kontrolle oder sexuelle Gewalt – eine zentrale Rolle spielen.

Realitätsflucht stelle ich mir anders vor

Ich lese solche Schlagzeilen bereits viel zu oft in der Zeitung. Man muss sie mir nicht auch noch ausführlich im Zirkus zeigen. Vor allem nicht mehrere Minuten lang. Auf das wohlige Schaudern, wenn zum Beispiel der Tod seine Sense schwingt, folgt erschreckend abrupt der realistische Horror. Diese Mischung aus Fiktion und Ernst hat überhaupt nicht zu dem gepasst, was ich erwartet hatte. Nichts bereitet darauf vor – nicht die kitschig-verspielte Eingangshalle, keine Content Warnungen oder Disclaimer. Nur in der Pressemeldung selbst findet man etwas Einordnung. Darin heißt es:

Besucherinnen und Besucher erwartet (…) düsteres Spektakel voller atemberaubender Artistik, schwarzem Humor und tiefgreifender Schicksale. (…) Der wahre Horror liegt hier nicht im Monster – sondern im Menschen, im Vergehen der Zeit, im Abschied.”

Das Erlebnis soll nachdenklich machen und provozieren. Es wäre schön gewesen, wenn dieses Statement leichter auffindbar wäre. Eine Pressemeldung liest das Publikum wohl kaum. 

Ich hätte es immerhin gefeiert, wenn die Frauen wenigstens zurückgeschlagen und sich gewehrt hätten. Aber auch das bleibt aus. Sie sind in der Show in erster Linie grazile und wehrlose Opfer. Hinzu kommen dafür geschmacklose religiöse Anspielungen. Zum Beispiel bittet der Feuerkünstler eine Person aus dem Publikum auf die Bühne, drückt ihr eine Zielscheibe in die Hand und fragt sie nach ihrer Religionszugehörigkeit. Auf ihre Antwort folgt sein Satz: “Ah, eine Katholikin wollte ich immer schon einmal abknallen.” So “innovativ”, wie der Zirkus laut Pressemeldung sein möchte, finde ich das nicht.

Anm. der Redaktion: Uns hat auch eine Mail eines*einer Leser*in zum “Zirkus des Horrors” erreicht. Die Person beschreibt die Show als deutliche Überschreitung der Grenzen der künstlerischen Freiheit, u.a. durch die Darstellung von Gewalt gegen Frauen und NS-Anspielungen, abgespielt als „Humor“. Künstlerische Freiheit ist eine Grauzone. Wenn derart mit ihr gespielt wird, braucht es wenigstens eine Warnung an das Publikum.

Mein Fazit

Ein Zirkus muss keine Bühne für Gesellschaftskritik sein. Dafür gibt es das Theater, Kabarett, Bücher und Co. Im Zirkus möchte ich einfach Spaß haben und fasziniert davon sein, wozu menschliche Körper fähig sind. Ich will höchstens darüber nachdenken, ob ich es in diesem Leben noch schaffen werde, ein Rad zu schlagen. 

Wenn man im Zirkus reale Probleme aufgreifen möchte, dann aber bitte anders! Mit einem besseren, rundum durchdachten Konzept. Der “Zirkus des Horrors” hat das in Wien leider plump gemacht. Aus der versprochenen Realitätsflucht wurde eine seltsame Achterbahnfahrt aus lockerer Unterhaltung, fragwürdigen religiösen Anspielungen und der Zurschaustellung grausamen Alltagshorrors. Das ist sehr schade, denn das Format hat eigentlich Potenzial.

Der “Zirkus des Horrors” zeigt seine Produktion „MEMENTO MORI – Deine letzte Stunde“ noch bis 02. November 2025.
Wo: Erzherzog-Karl-Straße 202 (neben der U2-Station „Aspernstraße“), Wien-Donaustadt
Mehr Infos gibt’s hier.

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