Auslöschung. Ein Zerfall – Burgtheater ** Braunes Erbgut

Telegramm an Franz Josef Murau: „Eltern und Johannes tödlich verunglückt.“ Die Rückkehr in die verhasste Heimat ist unabdingbar. Es wird viel geschimpft, viel geraunzt und möglichst alles vernichtet.

Content Warnings: Beschreibungen von häuslicher Gewalt und Suizid

Heimat ist, in diesem Fall, das Schloss Wolfsegg in Oberösterreich, das jedoch „niemals ein Heim, sondern immer ein Museum war“. In Therese Willstedts Inszenierung von Thomas Bernhards Roman zieht der Hauptcharakter gleich in achtfacher Besetzung über sein Geburtshaus und dessen Insassen her.

Eine*r spricht, während alle anderen mit verzogenem Gesicht und gestikulierend mitziehen. Die pseudointellektuelle Mutter verbringt ihre Zeit in der riesigen Bibliothek nur mit dem Ansehen von Bildern. Der Vater wird für seine Gier sowie seine Liebe zur Landwirtschaft verurteilt, und die Schwestern sind „ganz spezifisch […] gegen mich gezeugt worden“.

Der ältere und ehemals erbende Bruder Johannes war immer der Paradesohn. Doch auch das passt dem zweitgeborenen Franz Josef nicht. Einerseits wollte er „immer einen lächerlichen Bruder haben“, andererseits wird er dafür kritisiert, sich nicht genug von den Eltern distanziert zu haben.

„Wir sind im Reichtum erstickt und trotzdem herrschte auf Wolfsegg ein riesiger Geiz“ (c) Tommy Hetzel

Anti-Nostalgie

Die einzige Erinnerung, die Freude auslöst, ist jene an die Hochzeit der Schwester. Erst die unstandesgemäße Vermählung mit einem „Weinflaschen-Stöpsel-Fabrikanten“ konnte Murau ein schadenfrohes Lächeln abringen. Dieser wurde bei der Feier auch noch in den Anzug gesteckt, in dem der Großvater verstarb. Das widerwillige Schwelgen in Erinnerungen und das Betrachten alter Fotos bleibt ebenfalls nicht unkommentiert. Mit den Worten „Die Fotografie ist eine niederträchtige Leidenschaft“ hebt sich eine Trennwand und gibt den Blick auf die ganze Bühne frei.

Auf einer überdimensionierten roten Stiege klettern die Schauspieler*innen schimpfend umher und hüpfen als Karikaturen der Personen, die von Murau in den Schmutz gezogen werden, auf und ab. Es wird vor niemandem Halt gemacht. Weder vor der Familie, den jüngst Verstorbenen, noch vor Erzbischof Spadolini, mit dem die Mutter eine Affäre hatte. Alle müssen sie einstecken.

Eine Heimkehr anderer Art

Nachdem sich Franz Josef Murau ausgiebig über Gott und die Welt ausgelassen hat, zwingt ihn schließlich die Pflicht doch noch zurück nach Wolfsegg, um beim Begräbnis dabei zu sein. Dort angekommen, geht es ans Eingemachte: Er rollt die recht innige Beziehung zwischen seinen Eltern und hochrangigen Nazis auf.

Er erinnert sich an gesperrte Gebäude auf dem Anwesen, in denen in der Nachkriegszeit untergetauchte Offiziere nicht nur geschützt, sondern auch vorzüglich verköstigt wurden. Die Mutter brachte ihnen jeden Tag frische Eier. Und als Jahre später Gauleiter und SS-Obersturmbannführer zu Besuch kamen, wurde mit nostalgischen Worten auf die „gute alte Zeit“ in der sogenannten Kindervilla angestoßen.

Erst spät im Stück wird der Hauptcharakter, zuvor der ewige überhebliche Nörgler, tatsächlich zum Richter über greifbare Verfehlungen und Vergehen seiner Eltern. Angewidert erzählt er von Verbrechern, die sich jahrelang der Rechenschaft entziehen und von Geschädigten, die vergeblich auf Kompensation warten. Von umgefärbten Hakenkreuzfahnen und von bleibenden Löchern im Rock des Vaters durch den Partei-Anstecker.

Ausräuchern und austreiben (c) Tommy Hetzel

Unvollständige Vernichtung

Nach zwei Stunden nähern wir uns dem Finale in der Orangerie, wo die Särge präsentiert werden. Zu Blasmusik werden diese über die Bühne geschoben und getreten. Beinahe paranoid möchte Murau den bereits verschlossenen Sarg der Mutter öffnen, um sicherzugehen, dass auch wirklich alle Teile von ihr begraben werden. Am Ende schenkt der neue Universalerbe das gesamte Schloss Wolfsegg an die israelitische Kultusgemeinde und kehrt Österreich endgültig den Rücken zu.

Im Stück heißt es: „Das Schweigen ist noch entsetzlicher als das Verbrechen selbst.“ Und trotzdem fühlt sich das Ganze an wie Schweigen mit mehr Zwischenschritten. Die Nazis sind begraben, die Räume ausgeräuchert. Mit der Schenkung des Guts ist die Schuld beglichen und jetzt ist’s auch wieder gut mit dem ganzen Gedenken. Wenn alles ausgelöscht wurde, muss man sich mit nichts mehr befassen. Wenn alles gesagt ist, kann man guten Gewissens schweigen. Das Ziel von Erinnerungskultur kann aber nicht das Vergessen sein. Das Burgtheater versäumt es, neue Verbindungen zu gegenwärtigen Themen herzustellen und beschränkt sich auf die Reproduktion. Trotz eindrucksvoller Sprache und starker Bilder bleibt Willstedts Inszenierung in der Vergangenheit stecken.

Dennoch eine klare Empfehlung für die-hard Bernhard-Fans; für alle anderen ein gut gespielter Abend, dessen ehemals scharfe Kritik heute etwas stumpf wirkt. 

Termine und Infos findet ihr hier.

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