Ist das Böse angeboren oder entsteht es im Lauf des Lebens? „Wicked” will zeigen, wie isolierend der Widerstand sein kann.
Getarnt als Erzählung über die ungewöhnliche Freundschaft der zwei Hexen Elphaba und Glinda ist Wicked eigentlich eine ernste Geschichte über eine Welt, die dem Faschismus verfällt – und wie es fast keinem auffällt. Glitzer, Schwung und ein paar Tränchen gibt es an diesem magischen Abend im Stadttheater Baden. Ein Fest für Fans, die sowieso schon Fans waren, Neulinge könnten den Überblick verlieren.
22 Jahre nach der Uraufführung ist das weltberühmte Broadwaymusical Wicked nun erstmals in Österreich auf der Bühne Baden angekommen. Die Vorgeschichte des Buchs und Filmmusicals Der Zauberer von Oz, in dem Dorothy die böse Hexe des Westens besiegt, erzählt von ebendieser Hexe.

Perfekt getimed mit dem Kinorelease von Wicked – For Good, dem zweiten Teil der großen Hollywoodproduktion mit Popsängerin Ariana Grande als Glinda und Broadway-Star Cynthia Erivo als Elphaba, tauchen jetzt nicht nur alteingesessene Musicalfans in die Fantasiewelt von Oz ein.
Ganz großes Kino ist auch die Bühneninszenierung von Badens neuem Intendanten und Regisseur des Stücks Andreas Gergen. Der hat übrigens auch schon The Sound of Music aus den USA zurück nach Österreich geholt.
Worum geht’s?
Elphaba (Laura Panzeri) ist von Geburt an grün und ist es gewohnt, herauszustechen. Als sie auf die Zauberschule kommt, ist sie jedoch nicht mehr die einzige, die ausgegrenzt wird. Die sprechenden Tiere, die an der Schule unterrichten, werden beseitigt. Es geht also um Rassismus gegen grüne Menschen und sprechende Tiere in einer Welt, in der Zauberei existiert.
Wider Willen freundet sich Elphaba mit der quirligen Blondine Glinda (Vanessa Heinz) an. In klassischer Musicalmanier entsteht auch ein Love Triangle mit dem feschen Prinzen Fiyero (Timotheus Hollweg). Elphaba lernt, ihre Kräfte für ihre Überzeugungen einzusetzen: Niemand darf ausgegrenzt werden. Viel tiefer als derartige Plattitüden geht die politische Ebene der Geschichte aber nicht.
Realität in der Fiktion: „So etwas passiert nicht hier in Oz“
Angelehnt an Österreichs eigene Geschichte löst sich diese Inszenierung von der fiktiven Fantasiewelt des Originals. Denn die Zeitebene ist an die späten 1930er-Jahre geknüpft. Somit tragen die Hexen und Zauberer schnittige Anzüge mit Hosenträgern und elegante Lockenfrisuren.

Offensichtlicher wird der Konnex zur realen Welt ab dem Moment, als die Hauptmänner von Oz auftauchen, gekleidet in Uniform mit Armbinden, die nun eindeutig an die Zeit des Nationalsozialismus anspielen. Auch der Zauberer bezeichnet sich selbst im zweiten Akt als „Führer, der der Macht verfallen ist“, und salutiert wird mit den Worten „Grüß Oz“.
Mehr als Schall und Rauch
Die Originalmusik von Stephen Schwartz mit deutschen Texten von Michael Kunze liefert die erwartete Gefühlsachterbahn. Der dicht gefüllte Plot rauscht dahin mit flotten Kulissenwechseln, rasanter Figuren-Exposition und schwindelerregenden Gruppen-Tanznummern, Atempausen sind rar. Um hier mitzukommen, muss gut aufgepasst werden. Ab und zu hält die Inszenierung in Rückblenden inne. Dann tanzen Charaktere wie Geister durch die Szene, oder aber in angespannten Dialogen vor lautlos gespielten Hintergrundszenen.
Besonders spürbar wird die Spannung, wenn Elphaba ihre Kräfte entdeckt, die restlichen Figuren in Slow Motion, das Licht in Signalgrün. So zieht sie das Publikum in ihren Bann: Nach dem ersten Akt, der mit dem musikalischen Höhepunkt Frei und schwerelos endet, jubelt bereits das ganze Haus und wandelt die aufgeheizte Stimmung in Applaus um.
Herbeigezauberte Emotion
Musicallegende Maya Hakvoort glänzt wie eine Dragqueen in Pailletten als strenge Zaubermentorin Madame Akaba, und Mark Seibert schenkt dem zwielichtigen Zauberer von Oz seinen Charme. Gesanglich überzeugt das ganze Ensemble. Besonders Laura Panzeri, die auch in der italienischen Fassung des Kinofilms Elphaba ihre Stimme leiht, sticht mit ihrer emotionalen Spannweite hervor.

Für die Komik ist vor allem Vanessa Heinz als Glinda zuständig, ein echter emotionaler Bezug zu ihr entsteht jedoch nicht. Timotheus Hollweg als der sensible Macho Fiyero ist nicht ganz so stylisch gekleidet wie etwa im Kinofilm. Er trägt einen gelben Schottenrock, der ihm wohl ein modernes Soft-Boy-Image verleihen soll, und bleibt primär durch seine Tanzkünste in Erinnerung.
Das Liebesdreieck zwischen dem „Proleten”, der „Tussi” und dem Mädchen, das „einfach anders ist”, ist eine durchgekaute Idee. Das Quellmaterial stammt zwar aus den 90ern, das könnten aber genauso gut die 1590er sein. Entsprechend oberflächlich bleibt der Handlungsstrang. Dem Entstehen echter Chemie wird in dem dichten Plot schlichtweg zu wenig Zeit eingeräumt.
Die ausgeklügelt komponierte Musik setzt bewusst auf Frissons*, also Gänsehautmomente, die einen emotionalen Höhepunkt herbeiführen sollen, ob die Vorarbeit nun da war oder nicht.
Knister*Wissen: Als Frisson – übersetzt etwa als Gänsehautmoment – wird in der Musikwelt eine emotionale Reaktion bezeichnet, die durch musikalische Ereignisse hervorgerufen werden kann. Diese entsteht etwa durch besonders dramatische Musikstruktur, tonale Überraschungen, oder auch Callbacks zu bereits gehörten Melodien (sogenannten Leitmotiven). In Musicals werden solche Frisson-Momente besonders oft bewusst herbeigeführt.
Die zu Beginn des Stücks gestellte Frage nach dem Ursprung des Bösen – angeboren oder anerzogen – wird nicht ergründet. Und was bleibt von der politischen Message rund um den Faschismus? Viel mehr als „Macht korrumpiert” und „Steh zu dem, woran du glaubst” konnte hier nicht unter den (Hexen-)Hut gebracht werden.

Broadway in Baden
Ob nun von Nostalgie getrübt oder dem aktuellen Hype verfallen, Wicked ist eine solide Abenteuergeschichte, der manchmal zu viel Tiefgang zugeschrieben wird. Das Weltmusical vom Broadway ist jedenfalls überzeugend und originalgetreu auf die österreichische Bühne übertragen.
Es bietet für Fans des Kinofilms, Broadway-Ultras oder allgemeine Musical-Liebhaber*innen zugleich einen stimmigen Abend. Ob Tränen fließen, hängt wohl stark vom bisherigen Bezug zu Wicked ab. Denn wirklich lieben lernt man die Charaktere allein durch diese Vorstellung nicht.


