Er regiert das Subgenre des Löffelgedichts. Jan Wagner huldigt in seinem neuen Gedichtband neben dem Besteck auch vermeintlich Banalem. Er zeigt, wie groß und bedeutsam die kleinen, schier nebensächlichen Dinge sind.
„Steine & Erden“ handelt nicht etwa von wörtlich naheliegenden Dingen, wie etwa Kiesel und Lehm, Geröll oder Torf. Vielmehr zeigt Wagner in fünf Kapiteln und 66 Gedichten auf, wie alles mit allem zusammenhängt. Und dass auch der Mensch nur ein winziger Teil dieser Erde ist. Er tut dies in erfolgreich etablierter Wagnerscher-Manier – im Korsett alter Formen, mit brillanten Reimen und klarer Sprache, die an den richtigen Stellen glänzt.
Die Verwobenheit der Dinge
Zu Beginn des Gedichtbandes steht ein Zitat von Francis Ponge, das übersetzt so viel bedeutet wie:
„Wenn mein Schreiben über die Erde aus mir einen minderwertigen Dichter oder Erdarbeiter macht, so will ich es sein. Denn für mich gibt es kein größeres Thema.“
Dass auch für Wagner das Alltägliche, scheinbar Banale von großem Wert ist, fällt den gesamten Band hindurch auf. „Steine & Erden“ behandelt Dinge, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So gibt es ganze Gedichte zu Autoreifen und Tischen, zu einem Glas Milch und Toastbrot. Auch der grüne Spargel und das Streichholz werden im Blick, den Jan Wagner darauf wirft, zu großen Dingen voll tragender Bedeutung.
Bei genauer Lektüre dieser Texte fällt auf, dass diese leblosen Gegenstände eigentlich viel lebendiger sind, als sie auf den ersten Blick vermuten lassen. Diesem binären Denken, dem Unterscheiden zwischen wichtig und unwichtig, entzieht sich Wagner und die Lesenden hervorragend. Dabei ist oft der Vergleich von Licht und Finsternis, weiß und schwarz oder hell und dunkel zu finden. Der Tod is omnipräsent, zeitgleich lässt sich das Leben zwischen den Zeilen nicht leugnen. Das Alltägliche und das Existenzielle stehen in den Gedichten wie selbstverständlich nebeneinander.
Zum Fokus auf das Kleine, sagte Wagner in seinem Statement in „Text + Kritik“ 2016: „Wer ansetzt, ein Gedicht über das Thema ‚Freiheit‘ zu schreiben, mag scheitern. Wer sich ganz auf einen fallen gelassenen weißen Handschuh im Rinnstein konzentriert, wird vielleicht ein großartiges Gedicht über die Freiheit zustande bringen.“ Diese Verwobenheit des Kleinen mit dem Großen und Ganzen zeigt der Autor bemerkenswert auf.

Freiheit in den Regeln
Die Form der Gedichte ist alles andere als alltäglich, wenn auch ihr Inhalt es so aussehen lässt. Neben Sonetten und Prosagedichten zählen dazu auch Haikus. Dass Jan Wagner eine Vorliebe für die alten Formen der Lyrik hegt, ist allseits bekannt. Auch in „Steine & Erden“ spielen sie eine große Rolle. In der „krähenghasele“, der „geiersuite“, dem „schiebewurstblues“ und den „blackbeard-interviews“ finden sie sogar Eingang in den Titel. In seinem Statement 2016 sagte er dazu:
„ Für mich wäre es im Gegenteil ein Verlust von Freiheit, diese Formen nicht dort zu verwenden, wo sie sich aufdrängen, weil ihre Eigenheiten dem Gedicht zugute kommen. Form kann so zu einem Korsett werden, in dem es sich besonders gut atmen lässt – wenn man sie nicht als Verpflichtung begreift, sondern als Prozess, der die bildliche und gedankliche Entwicklung des Gedichts in vollkommen unerwartete Bahnen lenkt.“
Schließlich sagte bereits Robert Frost, das Schreiben in freien Versen sei wie Tennis ohne Netz zu spielen. Ganz den Regeln der Form folgend, führt Wagner in der „krähenghasele“ den identen Reim der Krähe fort. Freier zeigt sich der Dichter in seiner originellen Art, Sprachen und Klänge zu überraschenden Reimen zusammenzubringen. So etwa in „görlitz“, einem Sonettenkranz aus Wagners zweitem Buch „Guerickes Sperling“. In diesem reimt er unter anderem „nikotin“ auf „mannequin“, „wusch“ und „rouge“ und „nonchalance“ auf „renaissance“.
Doch nicht nur die Reime zeichnen die Klanglichkeit Wagners Gedichte. Sie sind oft stark von Musikalität geprägt und onomatopoetisch, also lautmalerisch, durchzogen. Die Metrik, Assonanzen und Alliterationen tun ihr Übriges. Dies ist unter anderem, was kurzen Texten wie „die regel“ eine solche Wucht verleiht.
Zwischen Beobachtung und Mahnung
Doch auch Wagners enormes geschichtliches Wissen trägt zur Gewichtigkeit seiner Lyrik bei. So übersetzt er beispielsweise Texte von Dylan Thomas, spielt auf Rilkes „Panther“ mit einem gleichnamigen Gedicht an, paraphrasiert es auf mehreren Ebenen, bricht dann aber doch mit dem Reimschema.
Auch in „f. h. am fortepiano“, „karl VI., genannt der wahnsinnige, begibt sich zu bett“, „de vita caroli quarti“ und „die augenwende“ zeigt sich sein enormes Hintergrundwissen. Besonders Wagners Einbettungen von Religion in seine Gedichte verdeutlichen dies. Sie, die Religion, findet in „Steine & Erden“ oft Einzug. Wenn auch nur subtil. So beschreibt Wagner in „regenporträt“ die Wunder des Regens und schlussfolgert: „so oft vorhergesagt, doch keine kirche, die auf ihm gründet.“
In der „geiersuite“ wird von einer einzigen Aussicht auf Himmelfahrt gesprochen, während in anderen Texten Reifen als ein „heiligtum des banalen“ („reifen“) und ein Glas Milch im gleichnamigen Gedicht als „kirchenkerze, ohne altar / und ohne docht, aber leuchtend“ beschrieben wird.
Zeitgleich setzt Wagner die Dinge zart in realen Bezug, übt hier und da versteckte Kritik, die fast schon als aktivistische Note für mehr Respekt gelesen werden kann. Etwa, wenn es in „kühe“ heißt – „einmal waren wir herde. / wie sollten sie uns jemals den verrat / verzeihen, sagtest du, die tiefkühlwagen, / bolzen und strom? noch bei der weiterfahrt, / noch abends sahst du nichts als ihre augen.“
Fazit: Diese Gedichte gehören in jedes Bücherregal.
Alles in allem zählt auch dieser Gedichtband Wagners zu den Büchern, die im eigenen Bücherregal keineswegs fehlen dürfen. Seine Art und Weise, die Welt zu betrachten und die Verhältnisse von Mensch und Natur offenzulegen, hinterlassen bleibenden Eindruck. Sowohl auf emotionaler Ebene, wenn auch im ersten Moment nicht erschließbar weshalb, als auch auf inhaltlicher Ebene.
„Bei einem guten Gedicht gehen einem schlagartig Dinge auf, was man ja wirklich als Erleuchtung bezeichnen könnte – in einem viel profaneren Sinne“, sagte Wagner im Gespräch mit dem Online-Portal Faust im November 2012. Dass die Gedichte aus „Steine & Erden“ zu den beschriebenen guten Gedichten gehören, steht zweifelsohne fest.
Jan Wagner, „Steine & Erden“. Gedichte, € 22,- / 114 Seiten. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023


