Amir Gudarzi hält Österreich mit seinem Debütroman “Das Ende ist nah” schonungslos den Spiegel vor und überzeugt mit brutaler Ehrlichkeit.
Berührend und schockierend berichtet Gudarzi vom Alltag eines Flüchtlings in der Asylhölle Österreich. Im mal mehr, mal weniger rasanten Wechsel zwischen drei Erzählperspektiven wird die Geschichte des Iraners A. erzählt, der 2009 vor dem iranischen Regime in die Sicherheit Kanadas flüchten will und in der emotionalen Kälte Österreichs strandet.
Während A.s Leben eine recht neutrale dritte Person erzählt, ist der Ich-Erzähler in Österreich weitaus emotionaler. Die dritte Perspektive erzählt von Sarah, die bereits zu Beginn des Romans einsteigt und im Laufe der Erzählung immer öfter vorkommt. Erzählt wird vom Aufwachsen A.s in Teheran, seiner Kindheit und seiner Flucht, von der Brutalität eines erbarmungslosen, sexistischen und streng religiösen Regimes, der unerwarteten Kälte in Österreich und fataler Liebe.
Aufstieg im Altbau
Mezzanin, erste, zweite, dritte und vierte Etage. So unterteilt Gudarzi die fünf Teile des Romans. Der Aufbau in die Charakteristika eines Altbaus scheint zunächst willkürlich, offenbart seinen Zweck aber mit der Zeit. Dieses Schema liegt dem gesamten Roman zugrunde, denn auch wenn Amir Gudarzi sprachlich keine neuen Sphären eröffnet, so fällt die Grandiosität der Geschichte und ihrer Details im Nachhinein betrachtet sehr wohl auf. Dies liegt wohl daran, dass er stets alles reflektiert und auserzählt, als täte die eigene Vorstellung, die in diese Leerstellen hineingelegt wird, zu sehr weh.
Etwa, dass A. im Laufe des Romans der gesellschaftliche Aufstieg aus dem Mezzanin, also vom Niemand im Iran, in die vierte Etage und somit zu jemandem mit einer Stimme – einem anerkannten Geflüchteten – gelingt. Im Zuge dessen wird die Erzählung über A. immer weniger, schlussendlich bleibt nur das Ich übrig. Selbst Sarah schwindet immer mehr. Von ihr bleibt durch den Aufstieg in die vierte Etage und dem plötzlichen Fall von dieser am Ende nur mehr der Kapitelname übrig.

Hintergründige Genialität
Amir Gudarzi hat mit diesem Roman nicht nur das Leiden eines Einzelnen aufgeschrieben, sondern die Geschichte Unzähliger offengelegt. “Das Ende ist nah” zeugt von den Narben, die von einem hinter sich gelassenen Leben übrigbleiben. Wenn sich A.s nüchtern erzählte Geschichte voll Gewalt, Tod und Widerstand mit seinem bereits nach Österreich geflüchteten Selbst abwechselt, nimmt zwar die Gewalt nicht ab, die Sprache ändert sich jedoch stark. Wie schon der Schriftsteller José F. A. Oliver schreibt, „verlor er auch die Sprache an das Eismeer der Migration“.
Während in der dritten Person über A. geschrieben wird, wird ihm etwas zugeschrieben, wodurch das iranische Regime indirekt Macht über ihn hat. Im Ich beherrscht er zwar die deutsche Sprache nicht, ist jedoch zum ersten Mal ein freier Mensch und hat somit eine eigene Stimme. Und diese ist besonders in den Momenten voll tiefer Trauer, Hoffnungslosigkeit und Schmerz gefüllt mit poetischer Bildgewalt.
„Alkohol macht aus mir ein Lineal. Ich fange dann an, alles zu messen. Sogar die Größe meiner Einsamkeit.“
Das ist Amir Gudarzi hervorragend gelungen. Die beiden Leben vereinen sich im Ich zu einem. A.s Vergangenheit in Teheran verschwimmt mit seiner Gegenwart in Österreich. In den Fluss der Worte schummeln sich österreichische Anwandlungen hinein. Er schreibt dann von „Häferl“, „Tiefkühlhendl“, „Sackerl“ und der „Abwasch“. Doch nicht nur das fällt auf. Denn Gudarzi zeigt in diesem Roman auf, was so viele Menschen nicht sehen wollten und teilweise immer noch nicht sehen wollen.
Weiße überlegene Retter?
Erbarmungslos legt er Kapitel für Kapitel ein perfektes Abbild der österreichischen Haltung zu Geflüchteten – des „white saviorism“ – sowie eines falschen Überlegenheitsgefühls offen. A. wird in den Mühlen der österreichischen Bürokratie zum gesichtslosen Niemand: Er ist dort bloß eine weitere Zahl, deren Antrag auf Asyl nur durch schier endloses Kämpfen zu einem Abschluss kommt.
Mit seinem Roman verschont Gudarzi niemanden, weder das iranische Regime noch die Landsleute A.s, mit denen er die Ausgrenzung in heruntergekommenen Asylunterkünften fristet. Schon gar nicht die Menschen in Österreich, die ihn zu jeder Zeit ihre Machtposition spüren lassen. Die österreichische (Dorf-)Seele kommt in diesem Roman nicht gut weg.
„Ich fühle mich gesehen, weil sie mir helfen wollten. Aber ihre Geste macht mir auch bewusst, dass sie uns Flüchtlinge als Gefahr wahrnehmen. Sie denken, dass Österreich ein großes Schönbrunn ist, das den wilden, primitiven, stinkenden Tieren ein Obdach bietet.“
Einzig Sarah sieht A. von Anfang an als den Menschen, der er ist. Sie lernen sich auf einer Kundgebung für den Iran kennen. Sarahs Wahrnehmung wandelt sich jedoch im Laufe des Romans, auch sie scheint Narben mit sich zu tragen. Ihre Beziehung wechselt schnell zwischen Wahn und Wirklichkeit, gegenseitigen Anschuldigungen und Abhängigkeiten.
Ein Debüt, das weh tut
„Das Ende ist nah“ ist ein grandioses Debüt, das von den Abgründen der Menschheit in eindringlicher Art und Weise erzählt. Amir Gudarzi zeigt die Lebensrealität jener, die mitten unter uns leben – auf Bahnhöfen, in Parks und am Straßenrand – und die der Willkür der Bürokratie, von systematischem Rassismus, Fremdenhass und Antisemitismus ausgeliefert sind.
Er erzählt von Menschen, denen man die Individualität raubte und die zur anonymen Masse gemacht wurden. Ein Buch, das nahe geht und mit Nachdruck dorthin sieht, wo es wehtut.
Amir Gudarzi, „Das Ende ist nah“. € 26,50 / 416 Seiten. dtv, München 2023.


