Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art – Matthias Gruber ** Falsche Meerjungfrauen und echte Glücksfunde

Selten schafft es ein Roman sprachlich so an der Oberfläche zu schwimmen und zeitgleich so in die Tiefe zu gehen wie Matthias Grubers Debüt „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“.

Arielle ist eine Vierzehnjährige wie alle anderen – sie geht zur Schule, hat Freund*innen und schwärmt für einen Jungen. Nur, dass sie grundsätzlich gar nicht ist wie Gleichaltrige. Sie verbringt ihre Nachmittage mit ihrem Vater beim Ausräumen von Wohnungen Verstorbener, wartet so lange am Beckengrund, bis ihr die Luft ausgeht und kann nicht schwitzen. 

Außerdem hat sie kaum Haare am Kopf und mit ihren Zähnen stimmt etwas nicht. Arielle weiß, wie es ist, für hässlich gehalten zu werden. Sie wird von ihrer besten Freundin aus gemeinsamen Fotos wegretuschiert und lächelt mithilfe ausgeschnittener Münder aus Zeitschriften. Als sie dann Paulines Handy findet und damit den Zugang zum sozialen Medium “Firefly”, ändert sich für sie alles. Plötzlich fliegen ihr die Likes zu und ihr Schwarm wird auf sie aufmerksam. Während ihr das schnell zu viel wird, entdeckt ihre Mutter das Konzept für sich und nutzt den Kanal für die Verwirklichung ihrer eigenen Träume.

Unsympathische Protagonistin

Matthias Gruber hat das Bild einer jungen Frau gezeichnet, deren Leben einzigartiger nicht sein könnte. Dennoch muss man sie im Laufe des Romans erst zwischen den Zeilen finden und zu einem Ganzen zusammenfügen. Die Leerstellen zeigen ein besonders eindrückliches Bild. Beispielsweise als Arielle ihre beste Freundin Yasmin in einer verhängnisvollen Nacht allein lässt. 

So ist es schwierig, große Sympathie für die Protagonistin zu empfinden. Sie wirkt in ihrem Handeln ausgeglichen und passiv, scheint sich mit ihrer Situation abgefunden zu haben. Dennoch ist sie unsicher und stets auf Anerkennung und Beachtung ausgerichtet. Dahingehend ist es Gruber wunderbar gelungen, die Gefühlswelt einer Vierzehnjährigen einzufangen. 

„Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ handelt von den Höhen und Tiefen einer, die äußerlich nicht dazugehört. Die vielschichtigen Nebenfiguren machen das Bild komplett. Auch wenn sie, wie im Fall der Figur Aljosa, nicht zwingend zur Erzählung beitragen, so sind sie doch essentiell für Arielles Geschichte.

Die Einsamkeit der ersten ihrer Art (c) Eva Krallinger-Gruber

Körperliche und existenzielle Krisen

Auch die Figuren der Mutter und des Vaters sind vielschichtig. Der Vater, der in seiner Verzweiflung im Elektroschrott des Müllplatzes nach Festplatten mit Kryptowährung sucht und sich dabei bis zum körperlichen Gebrechen schuftet. 

Währenddessen steuert die Mutter in ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben als „Frischebotschafterin“ eines Kosmetikunternehmens auf Schneeballsystem-Basis auf eine existenzielle Krise zu. Wie auch Arielle trägt sie einen Gendefekt in sich, sichtbar jedoch nur durch Ekzeme an ihren Handgelenken und zusammengewachsenen Fingern, die man ihr nach der Geburt trennen musste. Dennoch ist die Scham der Mutter größer als die von Arielle.

Sie schämte sich mit und schämte sich an meiner statt.

Allerdings  ist es nicht die Scham der Mutter, die bei den Lesenden womöglich Mitleid für Arielle auslöst. Viel eher sind es die ständigen Seitenhiebe und gut gemeinten Ratschläge, die betroffen machen. Während die Geschichte dadurch stellenweise eine tragische Tiefe und komplexe Gedankengänge hervorruft, lockert Gruber mit gezielt eingesetztem Witz die Situationen gekonnt auf. Zum Beispiel als Aljosas Vater – der Müllplatzverwalter Heinz – als Abschreckung gegen vermeintliche rumänische Diebe versehentlich die lettische anstatt der österreichischen Fahne hisst und den Müllplatz zu „österreichischem Hoheitsgebiet“ erklärt. Immer wieder treten Szenen auf, die gleichermaßen vor Komik und Ernst triefen und die dadurch keineswegs an Wichtigkeit verlieren.

Ein etwas anderer Coming-of-Age Roman

Auf den ersten Blick kommt dieses Werk als klassischer Coming-of-Age Roman daher. Gruber, der jahrelang mit Influencer*innen zusammenarbeitete und diese Welt genau kennt, allerdings keineswegs dahin zurück möchte, sagte bei den Rauriser Literaturtagen 2024 dazu: „Ich wollte keinen Roman in Rant-Form schreiben.“ 

Seine Sprache ist eingängig und gut lesbar, das Buch lässt sich gut in einem Rutsch lesen. Die teils kurzen, einfachen Sätze entfalten ihre Wirkungen gekonnt. Dann und wann blitzen wunderbar konstruierte sprachliche Hingucker auf, die bereits Beschriebenes hervorragend aufgreifen und die Lesenden innehalten lassen. Etwa wenn das Bestreben von Arielles Mutter, mithilfe des Firefly Accounts von der „Frischeberaterin“ zur „Frischebotschafterin“ aufzusteigen, anfangs misslingt. 

“Es liegt an deinen Fotos“, antwortete ich und stand zögernd vor dem Waffenschrank, in dem Großmutters Worte eines neben dem anderen lagen. „Deine Fotos“, sagte ich, entschied mich für das Schlimmste von ihnen und drückte ab, „sie sind einfach zu hässlich.”

Ein kluges Buch über Schönheit

Alles in allem ist „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ am Puls der Zeit. Es ist ein kluges Buch über Einsamkeit und Zugehörigkeit. Es zeigt, was Schönheit bedeutet und wo sie wirklich zu finden ist. 

Matthias Gruber erzählt eindringlich über die Oberflächlichkeit unserer Gesellschaft und wirft nebenbei viele existentielle Fragen auf. Um es mit Aljosas Worten zu sagen: „Das haben wir alles schon einmal gesehen, aber nicht in dieser Ehrlichkeit.“

Matthias Gruber, „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“. € 24,– / 304 Seiten. Jung & Jung, Salzburg 2023

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