Die verlorene Ehre der Katharina Blum – Burgtheater ** Medienhetze, Gewalt und Bühnenmagie

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Kino oder Theater? Im Burgtheater muss man sich nicht entscheiden. Im Stück “Die verlorene Ehre der Katharina Blum” ziehen nicht nur die Schauspielerinnen auf der Bühne, sondern auch Videos auf meterhohen Leinwänden das Publikum mitten ins Geschehen.

Man weiß gar nicht, worauf man sich konzentrieren soll: Auf Katharina Schmalenberg, Lola Klamroth und Rebecca Lindauer, die im Burgtheater auf der Bühne stehen? Oder auf die riesigen Videoeinspielungen hinter ihnen, auf denen die drei Schauspielerinnen überlebensgroß in immer wechselnden Rollen zu sehen sind? 

Die neue Inszenierung “Die verlorene Ehre der Katharina Blum” von Regisseur Bastian Kraft erzählt mit modernen Mitteln einen alten Stoff. Premiere feierte sein Stück bereits 2024 in Köln. Bis 25. November 2025 ist es noch in Wien zu sehen.

Katharina Schmalenberg, Lola Klamroth, Rebecca Lindauer (c) Tommy Hetzel

Worum geht’s: Ein Buch aus 1974 & aktueller denn je

Die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kannerschien 1974 und stammt von Heinrich Böll, einem der bedeutendsten deutschen Nachkriegsautoren und Literaturnobelpreisträger von 1972.

Im Mittelpunkt steht die junge Frau Katharina Blum. Sie arbeitet als Hausangestellte für das Ehepaar Hubert und Trude Blorna. Auf einer Tanzveranstaltung lernt sie Ludwig Götten kennen. Nach einer gemeinsamen Nacht mit ihm wird sie verdächtigt, ihrem Gspusi – einem mutmaßlichen Straftäter – zur Flucht verholfen zu haben. Sie gerät ins Visier der Boulevardpresse und erhält belastende Briefe sowie Anrufe. Als Reaktion auf die sensationsgierige Berichterstattung und dem daraus folgenden Rufmord tötet Katharina schließlich den zuständigen Redakteur Werner Tötges. 

Böll schrieb das Buch als Reaktion auf die mediale Hetze und politische Stimmung jener Jahre, insbesondere auf die reißerische Berichterstattung der deutschen Boulevardzeitung “Bild. Er kritisiert damit unter anderem unseriösen Journalismus, öffentliche Vorverurteilung und die moralische Verrohung einer Gesellschaft, die sich in Angst und Sensationslust verliert.

Modern, aber auch 70s

Optisch holt uns das Stück total in die 1970er-Jahre – also genau in die Zeit, in der die Erzählung von Heinrich Böll erschienen ist: Buschige Bärte und glänzende Long-Bobs, dazu ausgestellte Röcke und Hosen, Anzüge und Lederjacken. Alles in grau, beige oder nougatbraun (Kostüme: Jelena Miletić).

Die Inszenierung selbst ist aber modern und zog mich komplett in ihren Bann. Sie verdichtet vier Tage aus Katharinas Leben zu 100 intensiven Minuten. Davon ist vieles auf drei riesigen Leinwänden zu sehen.

Polizeibeamte, Freund*innen, Angehörige und alle, die irgendwas mit Katharina Blum zu tun haben, äußern sich zum Fall. Die Videos wurden vorproduziert und werden live vom dreiköpfigen Ensemble synchronisiert (Video: Sophie Lux). Meine Augen sprangen zwischen den Darstellerinnen und ihren digitalen Abbildern ständig hin und her. Der umfangreiche Medieneinsatz und der schnelle Rollenwechsel in den Videos passen super zur Thematik des Stücks.

Verwandlungskünstlerinnen: Drei Schauspielerinnen für viele Figuren

Was besonders cool ist: Alle Figuren werden ausschließlich von Katharina Schmalenberg, Lola Klamroth und Rebecca Lindauer gespielt. Da schlüpfen sie mal in die Rolle des Ex-Mannes, der kein gutes Haar an seiner Verflossenen lassen kann. Oder sie werden zur Arbeitgeberin Trude Blorna, deren Leben durch die Anschuldigungen ebenso zum Chaos wird. Sie verwandeln sich außerdem in den kaltschnäuzigen, sexistischen Kommissar, der alles an Katharina verdächtig findet.

Selbst Autofahren macht Katharina Blum verdächtig (c) Tommy Hetzel

Auch die Hauptfigur gibt es in dreifacher Ausführung. Das hat mich vor allem zu Beginn kurz verwirrt, als Mugshots projiziert werden. Darauf sieht man Katharina sowohl von vorne als auch von links und rechts. So unterschiedlich kann ein Mensch aus verschiedenen Richtungen doch nicht aussehen, dachte ich. Ziemlich schnell wurde mir dann aber bewusst, dass einfach ein Foto pro Person aufgenommen wurde.

100 Minuten Spannung

Die Charaktere auf den Leinwänden sind in Körperhaltung und Mimik alle ein wenig übertrieben dargestellt, das macht aber auch den Spaß aus und hält die Aufmerksamkeit aufrecht. Auf der Bühne selbst geht es nämlich die meiste Zeit eher ruhig zu. 

Wenn sie nicht gerade lipsyncen, wühlen sich die Schauspielerinnen zum Beispiel als Männer in Anzügen durch Akten sowie Protokolle und rollen den Fall fürs Publikum nochmal auf. Wir sehen die Cover des fiktiven Boulevardmagazins “die ZEITUNG” und die Schlagzeilen, die über Katharina gedruckt werden. Videos zeigen, wie sie sich im Verhör für jedes Detail ihres Lebens rechtfertigen muss: 

Warum kann sie sich als Hausangestellte eine Eigentumswohnung leisten? Wohin fährt sie ständig mit dem Auto? Warum empfängt sie öfter mal “Herrenbesuche” – ist sie etwa ein Flittchen?

Pure Gewalt und Taylor Swift 

Auch ihr Arbeitgeber Hubert Blorna soll sich zu Katharinas Charakter äußern. Als er sie als “klug und kühl” beschreibt, steht wenig später “eiskalt und berechnend” in der Zeitung. Selbst vor der kranken Mutter Katharinas schreckt der zuständige Reporter nicht zurück und konfrontiert sie im Krankenhaus mit wilden Spekulationen, die er als Fakten hinstellt. 

Richtig Action gibt es dann aber gegen Ende, als die drei Katharinas zu Taylor Swifts “Look What You Made Me Do” buchstäblich ausrasten. Schwarze Farbe fliegt durch die Luft und auf die Leinwände. Die angestaute Scham, Hilflosigkeit und Wut entlädt sich in purer Gewalt. Katharina will die Kontrolle über ihr Leben zurückerlangen. Allein für diese Szene lohnt es sich, die Vorstellung zu besuchen. 

Performance zu Taylor Swifts Look What You Made Me Do (c) Tommy Hetzel

Zeitlos & höchst aktuell

Mit “Die verlorene Ehre der Katharina Blum” gelang es Bastian Kraft, eine klassische Schullektüre kreativ auf die Bühne zu bringen. Das wandlungsfähige Ensemble passt hervorragend dazu.

Dabei verzichtet Kraft auf direkte Bezüge zur Gegenwart – und die sind auch nicht nötig. Wenn “die ZEITUNG” Vermutungen als Fakten darstellt, falsch zitiert und selbst vor kranken Angehörigen nicht Halt macht, denkt man sowieso sofort an Clickbait, Fake News und Medien, die sich an keine Regeln halten.

Die Probleme, die Heinrich Böll bereits 1974 zeigte, haben also bis heute nicht wirklich an Relevanz verloren. Und auch das Vorwort seiner Erzählung klingt 50 Jahre später noch ziemlich aktuell:

„Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“

“Die Verlorene Ehre der Katharina Blum” ist am 18.10., 08.11., 18.11. und 25.11. im Burgtheater zu sehen. Mehr Infos hier.

Am Donnerstag, 09.10. (18:45) findet außerdem das Online-Format “Werk im Fokus” statt. Darin sprechen Ensemble, Produktionsbeteiligte und Dramaturgie zusammen mit dem Publikum über das Stück. Die Teilnahme ist kostenlos. Mehr Infos hier.

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