2 GRAMMYs, 13 Latin GRAMMYs, 26,9 Millionen monatlicher Hörer*Innen weltweit auf Spotify & eine klassische Gesangsausbildung: Das vierte Studioalbum von Rosalía ist endlich da und hat uns in den Bann gezogen.
Das letzte Mal haben wir 2022 von Rosalía gehört. Damals hat die katalanische Sängerin mit “Motomami” die Latin Pop Charts erobert. Dann kam drei Jahre lang Funkstille. Und jetzt: Die Single BERGHAIN als Teaser und ihr viertes Album LUX.
“The more we are in the era of dopamine, the more I want the opposite. (…) There has to be something that pulls us here and there. (…) To be focused for hopefully an hour, where you’re just there. And I know it’s a lot to sk, but that’s what I want.” – Rosalía im Interview mit “popcast” (30.10.25)
DIE HARD FACTS:
- 4. Studioalbum der katalanischen Künstlerin Rosalía
- Rosalía ist ausgebildet in klassischem Gesang sowie in Flamenco.
- Auf dem Album wird in insgesamt 13 Sprachen gesungen: Spanisch, Katalan, Englisch, Latein, Japanisch, Italienisch, Deutsch, Ukrainisch, Arabisch & Portugiesisch.
- Drei Jahre Arbeit für das Album. Ein Jahr lang hat sie nur an den Texten gearbeitet, in Zusammenarbeit mit Native Speakern und Dolmetschern.
Wir wissen nicht, wie es euch geht. Aber wir sind komplett reingekippt. Und damit ihr nicht alle tieferen Bedeutungen, Easter Eggs und mehr raussuchen müsst, haben wir die wichtigsten Dinge zu LUX für euch zusammengefasst. Vielleicht auch, damit eure einzigen Assoziationen nicht ESC-Gewinner* Nemo und JJ oder Sänger der 70er/80er Jahre sind.
“The reason I made this album is love and curiosity. To learn the languages. To understand love better.” – Rosalía im Interview mit “popcast” (30.10.25)
Rosalía bezieht Motive aus dem Christentum, Hinduismus, Taoismus und dem Islam ein. Zum Beispiel durch Bezüge zu Sun Bu’er, einer taoistischen Mystikerin, oder durch Anspielungen auf Suren aus dem Koran. So entsteht eine universelle, interkulturelle Symbolsprache, in der das Göttliche kein religiöses Eigentum ist, sondern eine gemeinsame Erfahrung. Hier geht`s zur musikalischen Einordnung von LUX.
1. BERGHAIN: Club, Musik & Religion in einem.
Der Song “Berghain” ist keine direkte Hommage an den Club. Auf der Meta-Ebene dann aber schon. Denn es geht um Herzschmerz und um das Leben zwischen Offenheit, Befreiung, Spiritualität und Sinnlichkeit. Quasi Clubkultur und Klassik als reinigende, erleuchtende Erfahrung.
“Rosalias solo line is aria-like and moves fluidly from the classical realm into something more stylistically modern, yet it feels entirely natural and never out of place.” – Linton Stephens für Crack Magazine (29.10.25)
Der Song wurde mit dem London Symphony Orchestra aufgenommen und das Musikvideo in Warschau gedreht. Es erzählt die Geschichte eines gebrochenen Herzens – vom Herztest bis zum Juwelier, der das Herz (bzw. den Herz-Anhänger) reparieren soll. Das Video enthält außerdem einige polnische Easter Eggs:
- Poster “Conduction System of the Heart” auf polnisch
- Musiker*innen neben den Öffis: Film “Die Stille vor Bach” (2007, R: Pere Portabella)
- Leonardo da Vincis “Dame mit Hermelin”: Eines der wertvollsten Kunstwerke da Vincis im Czartoryski Museum in Krakau.
- Tiere in der Wohnung während Björks Teil: “Snow White” (1937, Disney)
- Die filmische “Einsamkeit”: Film “Three Colors: Blue” (1993, R: Krzysztof Kieślowski)
Auch die Musik lässt genug Raum für Inspiration. Wer kein Klassik-Nerd ist, jetzt aber Lust hat auf mehr wie “Berghain”, dem sei hier geholfen. Die offensichtlichste Assoziation ist der Winter von Antonio Vivaldi (bzw. die Neuinterpretation von Max Richter). Aber es gibt noch mehr für die Berghain-Playlist: Carmina Burana (Carl Orff), Dies Irae (aus Verdi’s Requiem), Tanz der Furien (aus Gluck’s “Orfeo ed Euridice”) und Palladio (Karl Jenkins).
“Ich wollte eigentlich nie ins Berghain. Wenn es sich dort so anfühlt, muss ich das vielleicht nochmal überdenken.” – Verena Bogner, FM4 (28.10.25)
Quellen zum Weiterlesen: u.a. Euronews, ara, BR Klassik
2. SEXO, VIOLENCIA Y LLANTAS: Sex, Gewalt und Reifen
“Primero amar el mundo y luego amar a dios.” – Liebe zuerst die Welt und dann Gott.
Die Hölle ist kein Ort, sondern ein Zustand. Rosalía spricht in diesem Lied nicht von Dantes Inferno (=9 Ebenen der Hölle), sondern quasi von einem Katalog der Todsünden. Sie singt von Betrug und Verrat, von der Illusion einer Balance zwischen Körper und Geist – und von der Umkehrung der göttlichen Ordnung. Der Mensch hat Priorität auf dieser Welt, nicht mehr das Geistliche.
- Lujuria (Lust): Der Körper, die Begierde und die Vitalität. Sünde als Lebenstrieb – “sexo”.
- Gula (Völlerei): Überfluss, Tempo und Konsum. Asphalt als das Symbol für Maßlosigkeit – “llantas” = Reifen.
- Avaricia (Habgier): Die kapitalistische Selbst-Erstickung, das Geld ersetzt den Glauben – “monedas en gargantas”.
- Ira (Zorn): Gewalt als Unterhaltung, Sadismus als kulturelle Normalität – “Deportes de sangre”, Blutsport wie z.B. Stierkampf.
- Herejía (Häresie): Das diesseitige wird göttlich, die Blasphemie die moderne Existenz.
Bedeutung: Die Sünde ist nicht die Abweichung, sondern der Ursprung von allem. Das Göttliche existiert im Übermaß, der Asphalt wird zum Altar der Menschheit.
Quellen zum Weiterlesen: Metal Magazine, El Huffpost auf TikTok
3. RELIQUIA: Reliquie
“Yo que perdí mis manos en Jerez y mis ojos en Roma” – Ich, die meine Hände in Jerez und meine Augen in Rom verlor.
Reliquia ist ein Lied über Verlust, Verwandlung und Heiligkeit. Es sucht das Göttliche nicht im Himmel, sondern in den Resten eines gelebten Lebens. Der Begriff Reliquia bedeutet „Reliquie“, also ein Überbleibsel eines Heiligen, etwas, das geblieben ist, wie zum Beispiel Knochen oder Haare, nachdem der Körper vergangen ist. Rosalía spielt hier mit dieser Idee: Sie zerlegt sich in Stücke, verliert ihre Sinne und Eigenschaften an verschiedenen Orten der Welt und bleibt am Ende nur noch als Spur, als Symbol, als das, übrig.
“Pero mi corazón nunca ha sido mío, yo siempre lo doy” – Mein Herz gehörte nie mir, ich habe es immer weggegeben.
Das Herz steht in der christlichen Ikonographie (=Deutung und Beschreibung von Symbolen in Kunstwerken) oft als Symbol göttlicher Liebe. Es wird hier zum Beweis, dass Heiligkeit nicht in Abgeschlossenheit entsteht, sondern im Sich-Hingeben. Die „Reliquia“ ist bei Rosalía kein Knochen in einer Glasvitrine, sondern das, was bleibt, wenn man alles Irdische verbrannt hat. Erinnerung, Liebe, Klang.
“Coge un trozo de mí, quédatelo pa‘ cuando no esté” – Nimm ein Stück von mir, bewahre es auf für die Zeit, wenn ich nicht mehr da bin.
Es ist kein Liebeslied, sondern ein Testament: eine Einladung, aus ihrer Verletzlichkeit etwas Sakrales zu machen. Klanglich wirkt der Song fast schwerelos. Ihre Stimme ist hell, luftig, fast engelsgleich, wie eine Stimme aus einem anderen Raum. Am Ende ertönt ein leises Rascheln einer Seite. Es ist, als würde hier ein neues Kapitel beginnen.
Bedeutung: Reliquia bedeutet Wiedergeburt durch Verlust. Die „Reliquie“ ist der Mensch nach der Zerstörung, der Klang nach der Stille. Das leise Umblättern am Ende ist die Offenbarung: ein neues Kapitel beginnt. Reliquia zeigt, dass göttliche Gnade nicht in Vollkommenheit liegt, sondern im Überleben, im Licht.
Quellen zum Weiterlesen: Exclaim! Magazine, Elle Magazine
4. DIVINIZE: vergöttlichen, zu Gott machen
Vom lateinischen Wort divinus, göttlich, heilig. Das Verb divinizar bedeutet, etwas Menschliches oder sich selbst zu Gott zu erheben. In der christlichen Lehre gilt das als die höchste Form der Häresie, der Ketzerei. Doch Rosalía dreht diese Idee um. Sie nimmt das Ketzerische und verwandelt es in eine mystische Emanzipation. In den Moment, in dem das Weibliche sich selbst zur Gottheit erhebt.
“Fruita roja i rodona, qui l’endevina? Obviament és la poma que està prohibida“ – Rote, runde Frucht, wer errät sie? Natürlich ist es der Apfel, der verboten ist.
Der Apfel steht für den Sündenfall, für Erkenntnis. Sie wird selbst zur Frucht. Das Verbotene verwandelt sich in das Göttliche. Eva wird nicht mehr verführt, sie initiiert.
“Through my body, you can see the light. Pray on my spine, it’s a rosary.“ – Durch meinen Körper kannst du das Licht sehen. Bete auf meiner Wirbelsäule, sie ist ein Rosenkranz.
Hier zeigt sich Gott nicht über dem Körper, sondern durch ihn. Der Leib wird zum Medium des Göttlichen, zur Offenbarung im Fleisch. Der Körper ersetzt die Kirche. Das Sakrale, also das Geistliche, wird wörtlich verkörpert. Was in der Theologie als Sakrileg gelten würde, wird bei Rosalía zur Offenbarung.
“I know that I was made to divinize. Outside me, inside me.“ – Ich weiß, dass ich geschaffen wurde, um zu vergöttlichen. Außerhalb von mir, in mir.
Selbstvergöttlichung ist hier kein Akt des Hochmuts, sondern des Schicksals. Sie beansprucht, was der Kirche und dem männlichen Gott vorbehalten war: den direkten Zugang zum Göttlichen, ohne Mittelsmann. Das Innere und das Äußere verschmelzen. Die Grenze zwischen Mensch und Gott löst sich auf. Das Göttliche wird nicht mehr angebetet, es wird verkörpert.
Biblisch zitiert Rosalía hier drei Ursprünge der Rebellion. den Sündenfall (Genesis 3), den Turmbau zu Babel (Genesis 11) und den Sturz Luzifers (Jesaja 14:12). Doch wo die Kirche Strafe sah, sieht sie Erkenntnis. Mystisch erinnert das an Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila. Heilige, die Gott nicht im Himmel suchten, sondern im eigenen Schmerz, im Körper, in der Ekstase.
Bedeutung: Divinize ist der Moment der Selbstvergöttlichung, der Mensch als heiliger Körper. Rosalía kehrt den Sündenfall um: Erkenntnis ist keine Schuld mehr, sondern Erlösung. In einer patriarchalen Theologie wäre das luciferisch, bei ihr ist es feministische Mystik. Rosalía wird göttlich durch Erfahrung, nicht durch Glauben.
Quellen zum Weiterlesen: Rezmecla, Le Monde
5. PORCELANA: Porzellan
„Ego sum nihil, ego sum lux mundi“ – Ich bin nichts, ich bin das Licht der Welt.
Diese Zeile ist das Herzstück von Porcelana. Sie zitiert eine Christusformel aus dem Johannesevangelium (8:12). Ursprünglich ein Satz, der göttliche Autorität beansprucht. Rosalía aber dreht ihn mystisch um: Demut und Göttlichkeit existieren in einem Atemzug. Der Mensch wird göttlich, indem er sich selbst entleert. Porzellan wird zum Symbol dieser Spannung. Es steht für Reinheit und Zerbrechlichkeit zugleich. Makellos, aber empfindlich, schön, aber brüchig. Die Risse darin sind keine Makel, sondern Öffnungen, durch die Licht (lux) eindringen kann. Heiligkeit zeigt sich nicht in Perfektion, sondern im Bruch.
„Mi piel es fina, de porcelana, rota en la esquina. Y de ella emana luz que ilumina, o ruina divina.“ – Meine Haut ist dünn, aus Porzellan, an der Ecke gebrochen. Und aus ihr strömt Licht, das erleuchtet oder göttliche Ruine.
Porzellan steht für Reinheit, Schönheit, aber auch für Zerbrechlichkeit. Seine Risse sind keine Makel, sondern Öffnungen, Stellen, durch die das Licht (lux) eindringt. Eine göttliche Ruine, eine Offenbarung aus Fragmenten.
„Soy la diva del tigueraje“ – Ich bin die Diva des Tigueraje (der Wildheit, des Stolzes der Straße)
Das ist eine Anspielung auf die apokalyptische Frau aus der Offenbarung des Johannes (Kapitel 12): Jene, die in Wehen liegt und den himmlischen Drachen bekämpft. Rosalía wird zur Göttin im Sturm, zur Schöpferin aus Chaos.
„Ah, te puedo enamorar, te puedo inspirar, te puedo envenenar y te puedo curar“ – Ich kann dich verliebt machen, inspirieren, vergiften und heilen.
Das ist die Auflösung des Madonna–Whore-Komplexes: Heilige und Sünderin zugleich. Sie darf beides sein, Retterin und Versuchung, Göttin und Frau.
Quellen zum Weiterlesen: Musikexpress
6. MIO CRISTO PIANGE DIAMANTI: Mein Christus weint Diamanten
„Mio Cristo“ – Mein Christus.
Der Titel ist ein Paradox aus Leid und Schönheit. Göttliche Trauer in Edelsteinform. Der Schmerz wird veredelt, kristallisiert, unzerstörbar. Ein Lied, dass ein ganzes Jahr brauchte, um zu entstehen. Nicht il Cristo, sondern mio: persönlich, fleischlich, verletzlich. Er ist kein Gott über den Dingen, sondern ein Geliebter, der mitleidet. Rosalía zieht Christus aus der Kirche in die Intimität..
Tränen werden zu Diamanten. Es ist die Umkehrung des kürzesten Bibelverses: „Jesus wept.“ (Johannes 11:35). Wo die Schrift nur das Mitleid Gottes zeigt, formt Rosalía eine neue Bedeutung: Gott weint Licht. Die Träne wird zur Schöpfung, zur Materie des Göttlichen.
„Piange diamanti“ – Er weint Diamanten.
Tränen sind in der Bibel außerdem ein Symbol der Erlösung. In der Offenbarung des Johannes (Kapitel 21) heißt es, Gott werde „alle Tränen von den Augen wischen“. Der Schmerz verschwindet, Rosalía aber lässt ihn bleiben und macht ihn unvergänglich. Gleichzeitig spielt sie mit der marianischen Symbolik: In der katholischen Erzählung ist es Mutter Maria, die weint. Hier ist es umgekehrt. Christus weint, und sie tröstet ihn. Rosalía wird selbst zur Mater Dolorosa, zur Göttin des Mitgefühls. Doch Mio Cristo Piange Diamanti ist nicht nur geistliche Musik, es ist auch Pop.
Diamanten sind in der modernen Kultur Symbole für Glamour und Reichtum. Rosalía verwebt das Spirituelle mit dem Materiellen: Tränen glänzen wie Schmuck, Heiligkeit trägt einen Schimmer von Luxus. So entsteht ein neues Spannungsfeld, Spiritualität trifft Konsum. Das ist kein Spott, sondern eine Aktualisierung des Sakralen. Im Zeitalter des Marktes wird das Göttliche nicht mehr nur angebetet, sondern getragen, gezeigt, gefühlt.
Bedeutung: Mio Cristo Piange Diamanti ist das Lied göttlicher Empathie. Schmerz wird nicht ausgelöscht, sondern veredelt, als Licht, das bleibt.
Quellen zum Weiterlesen: Frankfurter Allgemeine, NPR
7. LA PERLA: Die Perle
La Perla klingt wie ein Exorzismus in Form eines Liebeslieds. Der Titel, die Perle, steht in der Bibel für Reinheit und Kostbarkeit („das Himmelreich gleicht einer Perle, die ein Kaufmann fand und alles verkaufte, um sie zu besitzen“ – Matthäus 13:45). Rosalía kehrt die Symbolik um: Ihre Perle ist trügerisch. Der Song beschreibt einen Mann, der blendet, “Playboy, campeón”, ein eitler König ohne Reich, “emotional terrorist”. Er ist eine falsche Perle, glänzend von außen, hohl von innen. Rosalía seziert ihn mit Ironie und Wut.
“Nunca le prestes nada, no te lo devuelve” – Leih ihm nichts, er gibt es dir nie zurück.
Der Text klingt wie Beichte und Rache zugleich. Zwischen den Zeilen: weibliche Enttäuschung über einen Mann, der Freiheit predigt, aber Verantwortung meidet. Die Zusammenarbeit mit Yahritza y Su Esencia, einer jungen mexikanisch-amerikanischen Band, gibt dem Lied eine erdige, melancholische Textur. Es klingt nach Grenzerfahrung: zwischen Liebe und Zorn, Lateinamerika und Spanien, Spiritualität und Straßensprache.
Bedeutung: La Perla ist kein Liebeslied, sondern ein Abgesang auf den Narzissmus der Männlichkeit. Die Perle ist kein Symbol mehr für Reinheit und Heiligtum, sondern für Täuschung. Sie wird nicht mehr verehrt, sondern entlarvt.
Quellen zum Weiterlesen: NDR Kultur
8. MUNDO NUEVO: Die neue Welt
“Por ver si en un mundo nuevo yo encontraba más verdad.”
Um zu sehen, ob ich in einer neuen Welt mehr Wahrheit fände.
Nur eine Strophe, fast ein Gebet. Mundo Nuevo ist das Atemholen zwischen Tod und Wiedergeburt. Es klingt wie ein altes andalusisches Volkslied, schlicht, ohne elektronische Effekte, reine Stimme. Rosalía spricht womöglich zu ihrer Mutter, zur Erde, vielleicht zu Gott. Sie möchte „verneinen“, alles ablegen, was sie kennt. Der Wunsch, eine neue Welt zu finden, ist nicht futuristisch, sondern spirituell. Es geht um Reinigung, nicht um Eskapismus.
Bedeutung: Mundo Nuevo ist der Moment der Umkehr, das Gebet einer Seele, die nach Wahrheit sucht, nachdem alles Irdische verbrannt ist. Es ist die Rückkehr zur Quelle, zur Reinheit vor der Sünde.
9. DE MADRUGÀ: Das Morgengrauen
“La cruz en el pecho calibra mi cuerpo.” – Das Kreuz auf meiner Brust kalibriert meinen Körper.
Der Titel heißt „bei Morgengrauen“: Die Stunde zwischen Nacht und Tag, zwischen Schuld und Vergebung. Rosalía verwandelt diese Zeit in einen spirituellen Grenzraum. Sie spricht von Rache, Erlösung und Feuer, sieht diese aber nicht als Gegensätze:
“No hay una Glock o Beretta que te traiga de vuelta.” Kein Gewehr kann den Verlust aufheben, Gewalt kann Liebe nicht ersetzen.
Der ukrainische Refrain fügt eine universelle Dimension hinzu: Schuld verfolgt jeden, der lebt.
„Я не шукаю помсти, помста шукає мене“ – Ich suche keine Rache, die Rache sucht mich.
Bedeutung: De Madrugá ist ein Rachepsalm und ein Gebet zugleich. Die Kreuzsymbolik wird körperlich, der Glaube zugespitzt, nicht erlöst. Die Sünde ist kein Fehler, sondern ein Gewicht, das man jeden Morgen neu trägt.
10. DIOS ES UN STALKER: Gott ist ein Stalker
Schon der Titel ist Blasphemie und Liebeserklärung zugleich. Rosalía entzieht Gott seine Allmacht und gibt ihm wieder menschliche Züge: Begierde, Eifersucht, Obsession.
„Yo te sigo, tú improvisa“ – Ich folge dir, improvisiere ruhig.
Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf wird umgedreht. Gott verliert Kontrolle, wird zum Schatten, zum Beobachter. Der Allmächtige wird abhängig vom Objekt seiner Liebe.
„No me gusta hacer intervención divina, pero a mi baby hoy lo voy a stalkear“ – Ich mag keine göttliche Intervention, aber heute werde ich mein Baby stalken.
Das ist göttliche Eifersucht in Popform. Der Begriff intervención divina, sonst der Eingriff Gottes in die Welt, wird zur ironischen Selbstdiagnose. Gott greift nicht mehr ein, er beobachtet.
„Mi silencio golpea, dueña del mundo y de las ideas“ – Mein Schweigen schlägt, Herrin der Welt und der Ideen.
Das Schweigen Gottes ist nicht mehr männlich, sondern weiblich. Das feminine Prinzip übernimmt die göttliche Sprache: Macht und Schöpfung entspringen nun nicht der Rede, sondern der Beobachtung, der Geduld, der Intuition. Rosalía entwirft hier eine völlig neue Theologie. Eine, in der Gott nicht über dem Menschen steht, sondern unter ihm leidet. Liebe, Macht, Kontrolle und Glaube sind keine getrennten Konzepte mehr, sondern Facetten desselben Verlangens.
Bedeutung: Der Song wirkt fast pervers in seiner Intimität. Erotisch, weil der göttliche Blick ein körperlicher wird. Gruselig, weil Nähe hier in Überwachung kippt. Und genau das macht ihn so faszinierend: Dios es un stalker ist keine Gotteslästerung, sondern ein Spiegel, Gott liebt so besessen, wie wir selbst lieben.
11. LA YUGULAR: Die Halsschlagader
„¿Cuántas historias caben metidas en 21 gramos?“ – Wie viele Geschichten passen in 21 Gramm?
Die Halsschlagader, das Hauptgefäß des Lebens. Der Titel selbst trägt die Spannung zwischen Körper und Seele, Blut und Geist, Leben und Tod. Rosalía findet in diesem Song den vielleicht radikalsten Ausdruck ihrer spirituellen Anatomie. Es ist eine Anspielung auf den alten Mythos, dass die menschliche Seele 21 Gramm wiegt. Das Immaterielle bekommt Gewicht. Der Geist wird nicht mehr als Idee gedacht, sondern als fühlbare, messbare Substanz. Es ist der Versuch, das Unsichtbare zu wiegen, eine poetische Vermessung der Seele.
„Yo no tengo tiempo para odiar a Lucifer, estoy demasiado ocupada amándote a ti, Undibel“ – Ich habe keine Zeit, Lucifer zu hassen, ich bin zu beschäftigt, dich zu lieben, Undibel.
„Undibel“ bedeutet „Gott“ im Caló, der Sprache der spanischen Roma. Das ist entscheidend: Rosalía ruft hier nicht den katholischen Gott an, sondern einen Romani-Gott. Einen, der aus Widerstand, Diaspora und Überleben geboren ist. Damit schafft sie eine neue, transkulturelle Mystik mit katholischer Ikonografie, islamischer Lyrik und Roma-Spiritualität. Religionen, die sich historisch bekämpft haben, verschmelzen hier zu einem gemeinsamen Glauben.
„من أجلك أدمَّر السماء، من أجلك أهدم الجحيم، فلا وعود ولا وعيد“ – Für dich zerstöre ich den Himmel, für dich stürze ich die Hölle ein; es gibt weder Versprechen noch Drohung.
Dieser arabische Refrain ist eine Liebeserklärung an den Glauben selbst – oder eine Auflösung davon. Himmel und Hölle verlieren ihre Gegensätzlichkeit. Es gibt keine Belohnung, keine Strafe, nur Hingabe.
„Tú que estás lejos y a la vez más cerca que mi propia vena yugular“ – Du, der du fern bist und zugleich näher als meine eigene Halsschlagader.
Das ist ein direktes Zitat aus dem Qur‘an, Sure 50, Vers 16 (Qāf, 50:16): „Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader.“ Die göttliche Präsenz wird körperlich, fast intim.
„I wanna see the eighth heaven“ – Ich will den achten Himmel sehen.
Im islamischen Glauben gibt es sieben Himmel. Die originale Aussage aus einem Interview in 1976 von Patti Smith, einer amerikanischen Punk-Rock Musikerin, wird in diesem Lied damit gesamplet. Patti beschreibt damit das Bestreben über das Göttliche hinaus.
Bedeutung: La Yugular ist eine Liebeserklärung an das Göttliche, das sich in der Vermischung offenbart, nicht in der Reinheit. Rosalía vereint das Christliche, das Islamische und das Romani-Spirituelle zu einem rebellischen, mystischen Kosmos. Sie zerstört Himmel und Hölle, um etwas Größeres zu finden: den Gott, der im Blut pulsiert.
12. SAUVIGNON BLANC
“Sé que mi paz yo me ganaré / cuando no quede na’, nada que perder.” – Ich weiß, dass ich meinen Frieden finden werde, wenn nichts mehr zu verlieren bleibt.
Ein Rauschlied nach der spirituellen Überhitzung. Sauvignon Blanc steht für die Rückkehr zum Materiellen. Aber nicht als Verfall, sondern als Befreiung. Sie verbrennt den Rolls-Royce, zerschlägt ihre Porzellanfigur, wirft ihre Jimmy Choos fort. Luxus wird zur Opfergabe. Das ist asketischer Hedonismus: Genuss durch Verzicht.
“Tu amor será mi capital.” – Deine Liebe wird mein Kapital.
Zärtlichkeit wird zur Währung, Beziehung als Investition gesehen. In einer Welt, in der alles monetarisiert ist, Streams, Körper, Gefühle, macht sie das Private zum Symbolischen. Sauvignon Blanc ist aber auch ein Spiegel ihrer eigenen Karriere. Der Wein steht für den neuen, modernen Luxus, hell, frisch, clean, global. Er ist das Getränk der neuen Wohlhabenden. Kein Rotwein mehr mit Geschichte, sondern Weißwein mit Branding. Sauvignon Blanc ist Kapitalästhetik. Ein Luxus, der nicht prahlt, sondern glänzt.
„A mi Dios escucharé, mis Jimmy Choo yo las tiraré.“ – Ich werde auf meinen Gott hören, meine Jimmy Choos wegwerfen.
Das klingt nach Verzicht, ist aber eine performative Geste. Sie entsagt dem Materiellen, etwas bedeutungslosem wie Jimmy Choo Schuhe. Es ist kein Rückzug, sondern ein Statement: Ich kann alles haben, also kann ich es loslassen. Sauvignon Blanc ist der Wein unserer Gegenwart. Es ist der Wein der „clean girl“-Ära: transparent, elegant, zugänglich, aspirational. Rosalía weiß, was sie tut. Sie ersetzt den sakralen Kelch durch ein Designer-Glas.
Bedeutung: Sauvignon Blanc ist Rosalías kapitalistische Beichte. Sie erkennt: Ruhm ist auch Religion. Geld, Liebe, Erfolg, alles sind Formen von Glauben. Der Wein wird zum Sakrament des 21. Jahrhunderts, kühl, golden und teuer. Sie trinkt auf ihren Ruhm, auf ihr Kapital und ertrinkt im Materiellen, von dem sie sich zu lösen versucht.
13. LA RUMBA DEL PERDÓN: Der Tanz der Vergebung (FT. Estrella Morente & Silvia Pérez Cruz)
“Toíto te lo perdono” – Ich vergebe dir alles.
Das ist der geistliche Höhepunkt des Albums. La Rumba del Perdón verbindet Flamenco, Volkslied und Liturgie zu einem modernen Evangelium über Vergebung. Ein Refrain, der wie ein Mantra klingt. Er wird wiederholt, bis er seine Bedeutung verliert und wie eine Beichte klingt. Rosalía erzählt Geschichten von Verrat, Verlust, Schuld. Vom Freund, der stiehlt. Vom Vater, der geht. Von der Mutter, die schweigt. Dann die dritte Strophe, eine moralische Explosion:
„Cuando el poder pesa más que el amor…“ – Wenn Macht mehr wiegt als Liebe.
Sie zählt Sünden auf, nicht um zu verurteilen, sondern um zu erinnern: Niemand ist ohne Schuld, jeder ist verzeihbar. Mit Estrella Morente und Silvia Pérez Cruz verschmelzen drei Generationen spanischer Flamenco-Stimmen.
Bedeutung: La Rumba del Perdón ist das Evangelium der Frauen: ein sakraler Flamenco über die göttliche Kraft des Verzeihens. Vergebung wird hier zur Revolte, gegen Schuld, gegen das Patriarchat, gegen die Idee, dass das Heilige unnahbar sein muss.
14. MEMÓRIA: Die Erinnerung (FT. Carminho)
Das vorletzte Lied ist fast klassisch portugiesisch. Ein Fado, einem portugiessischen Musikstil, als Gebet. Memória klingt wie ein Gespräch zwischen zwei Seelen, eine davon schon im Jenseits.
“Ainda te lembras de mim? Recorda-me por favor alguma coisa, o que for.” – Erinnerst du dich noch an mich? Erinnere mich bitte an irgendetwas, egal was.
Vergessen wird hier als Teil des Menschseins, nicht als Schwäche gezeigt. Carminho, die große Stimme des Fado, antwortet wie ein Echo aus einer anderen Dimension. Das Lied schließt den Kreis: Von der Sünde über die Läuterung zur Erinnerung.
Bedeutung: Memória ist das Gebet einer Seele, die Angst hat, vergessen zu werden. Von Gott, von der Welt, von sich selbst. Erinnerung wird hier zu Gnade: Solange sich jemand erinnert, existiert man weiter.
15. MAGNOLIAS
„Tírame magnolias“ – Wirf mir Magnolien.
Die Magnolie ist keine gewöhnliche Blume: Sie existierte schon, bevor es Bienen gab, ist ein Relikt aus der Frühzeit des Lebens. In Rosalías Kosmos steht sie für den Ursprung, die Unvergänglichkeit, die Brücke zwischen Himmel und Erde. Wenn sie nach Magnolien bittet, klingt das wie ein antikes Ritual: Eine Weihe, statt einem Abschied. Das Lied beginnt mit einem Tod. Sie sieht ihren eigenen Leichenzug, Motorräder, Rauch, Tränen, Wein.
„Sobre mi ataúd KTMs quemando rueda“ – Auf meinem Sarg brennen KTMs Gummi.
Der Asphalt wird wieder zum Altar, das irdischste aller Bilder wird heilig. Und doch ist alles erfüllt von Bewegung, Wärme und Liebe. Es ist kein stilles Begräbnis, sondern ein Triumphzug des Lebens über den Tod. Dann kommt der Vers, der das ganze Album zusammenfasst:
Dios desciende y yo asciendo / nos encontramos en el medio.“
Gott steigt herab, und ich steige auf – wir treffen uns in der Mitte.
Hier löst sich die Trennung zwischen Göttlichem und Menschlichem endgültig auf. Himmel und Erde reichen sich die Hand. Der Kreis schließt sich: Was in Sexo, Violencia y Llantas als Bruch begann, endet als Versöhnung, als Einigkeit.
„Yo que vengo de las estrellas / hoy me convierto en polvo pa’ volver con ellas.“ Ich, die von den Sternen kommt, werde heute zu Staub, um zu ihnen zurückzukehren.
Das ist Genesis 3:19 in ihrer eigenen Interpretation: „Denn Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück.“ Der Staub steht hier symbolisch nicht als Strafe, sondern für die Heimkehr.
Bedeutung: Magnolias ist der Schlusspunkt, an dem sich Rosalías gesamter Weg verdichtet. Von der Sünde zur Erkenntnis, vom Körper zum Geist, vom Chaos zur Klarheit. Nach all den Liedern über Lust, Schmerz, Blasphemie, Vergebung und Selbstvergöttlichung endet sie nicht in Triumph oder Tragödie, sondern in Balance.
Zwischen Himmel und Erde, Gott und Rosalía.
Hier findet sie, was das ganze Album gesucht hat: Die Versöhnung von Himmel und Erde. Der Treffpunkt in der Mitte ist das letzte Bild einer Reise, die in der Hölle begann (Sexo, Violencia y Llantas) und sich durch Schuld, Liebe und göttliche Obsession kämpfte. Das Sakrale und das Profane, die großen Gegensätze, die das Album ständig gegeneinander reibt, lösen sich nun auf. Die Magnolie wird zum Symbol dieser Vereinigung: Wenn sie wieder zu Staub wird, dann ist das eine Heimkehr, statt Kapitulation.
So schließt Magnolias das Album wie eine Offenbarung: Die Sünde war die Bedingung, nicht das Gegenteil. Das Göttliche war immer präsent, im Körper eingeschrieben. Und das Ende ist kein Fall, sondern ein Kreislauf, von Verdammnis bis zur Rettung.




