Der Körper und die Kathedrale ** Rosalía zwischen Avantgarde, Mainstream & Recession Pop

Rosalia zwischen Religion und Recession Pop

Die Popmusik ist ein Seismograf ihrer Zeit. Sie reagiert schneller als jede andere Kunstform auf gesellschaftliche Stimmungen, Krisen, Instabilität und das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen gerät. Und immer dann, wenn Unsicherheit überwiegt, sucht Pop nach Sicherheit.

Recession Pop – Sicherheit als Soundtrack

Der Begriff Recession Pop beschreibt Musik, die in wirtschaftlich oder sozial angespannten Zeiten entsteht und auf Stabilität setzt. Eingängige Melodien, klare Strukturen, emotionale Direktheit. Nach der Finanzkrise 2008 prägten Songs wie Lady Gagas „Just Dance“ oder Katy Perrys „Teenage Dream“ eine optimistische, eskapistische Welle. Heute, im Schatten von Inflation, Krieg und Klimakrise, wiederholt sich das Muster:Pop ist wieder glatt, kalkuliert, sicher.

Künstlerinnen wie Olivia Rodrigo, Tate McRae, Sabrina Carpenter oder Taylor Swift liefern präzise komponierte Songs über Liebe, Verlust und Selbstbehauptung, handwerklich perfekt, emotional direkt. Recession Pop ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine Reaktion auf gesellschaftliche Überforderung. Doch während viele am Bekannten festhalten, löst Rosalía diesen Rahmen bewusst auf.

Avantgarde Pop – die Suche nach Transzendenz

Mit ihrem Album LUX steht Rosalía in einer Pop-Spielart, die auf drei ästhetischen Linien basiert. Erstens der afroamerikanischen Club- und Queer-Kultur, in der ab den 1970er-Jahren Disco, House und Techno entstanden und deren Soundästhetik die Popmusik nachhaltig veränderte. Zweitens der feministischen Performancekunst, zum Beispiel etwa die Performance von Yoko Ono „Cut Piece“ von 1964. Drittens der elektronischen Avantgarde, die Popstruktur auflöste, Geräusche experimentierte und das Popmodell sprengte. Aus diesen Vermischungen, ergänzt durch Elemente der Ballroom Culture, entstand das, was heute oft als „Avantgarde Pop“ bezeichnet wird: eine Ästhetik von Brüchen, Verzerrung und Körperlichkeit, in der Popmusik Identität, Klang und Performance zugleich ist.

Auffällig ist, dass Avantgarde Pop häufig auf religiöse Symbolik zurückgreift. Kirchliche Bilder wie Beichte, Opfer oder Auferstehung werden nicht ironisch zitiert, sondern neu interpretiert. Als Zeichen von Transformation und Hingabe. Von Madonna über Björk bis FKA Twigs und Arca zieht sich diese Bildsprache durch den Pop.

Rosalía führt sie weiter, verschmilzt sakrale Motive mit digitalen Sounds und begreift das Spirituelle nicht als Dogma, sondern als Erfahrung. Sie nutzt Pop als Medium der Reflexion, zugänglich, aber vielschichtig. Avantgarde und Mainstream stehen hier nicht gegeneinander, sondern in Wechselwirkung: Der Mainstream übernimmt Ideen der Avantgarde, die Avantgarde reagiert auf ihre Popularisierung. Rosalía bewegt sich genau dazwischen, zwischen Kunst und Pop, zwischen Körper und Glauben.

Rosalía schafft eine Brücke zwischen Religion und Popkultur - mit einem neuen Mix an Musik.
Rosalía schafft eine Brücke zwischen Religion und Popkultur – mit einem neuen Mix an Musik. (c) Sony Music

Das Sakrale im Profanen

Mit LUX öffnet Rosalía den Pop für neue Themen: Sinn, Glauben, Identität. Sie greift Symbole wie Licht, Blut und Erlösung auf, um emotionale Zustände zu beschreiben. Von Schmerz und Hingabe zu Schuld und Vergebung. Was früher in Kirchen verhandelt wurde, findet bei ihr in Klang, Bewegung und Stimme statt. Rosalía selbst sagt, sie interessiere sich mehr für Mystik und die Vermittlung ihrer persönlichen Entwicklung mit der Spiritualität als dafür, sich an religiösen Vorschriften anzupassen.

Ihre Inspiration reicht über das Christentum hinaus. Sie bezieht Motive aus dem Hinduismus, dem Taoismus und dem Islam ein. Zum Beispiel durch Bezüge zu Sun Bu’er, einer taoistischen Mystikerin, oder durch Anspielungen auf Suren aus dem Koran. So entsteht eine universelle, interkulturelle Symbolsprache, in der das Göttliche kein religiöses Eigentum ist, sondern eine gemeinsame Erfahrung. Thematisch kreisen die Songs um wiederkehrende Fragen:

  1. Glaube und Zweifel: die Suche nach Halt ohne feste Wahrheiten
  2. Körper und Spiritualität: der Körper als Ort von Erkenntnis
  3. Weiblichkeit und Selbstbestimmung: Umdeutung religiöser Rollenbilder
  4. Sünde und Vergebung: Schuld als Teil von Erneuerung

Musikalisch verbindet Rosalía Chöre, Glocken und Gebetsmotive mit elektronischen Beats. Das Ergebnis ist eine Klangwelt, in der sich das Geistliche und das Weltliche, das Alte und das Digitale überlagern. LUX ist kein religiöses Album, sondern ein Nachdenken über Spiritualität im Hier und Jetzt, über die Suche nach Bedeutung in einer Zeit, die kaum stillsteht.

Pop als moderner Mythos

Rosalía nutzt Pop nicht als Flucht, sondern als Spiegel: Für gesellschaftliche Umbrüche, technologische Veränderungen und das Bedürfnis nach Echtheit in einer automatisierten Welt. Sie betonte mehrmals, dass sie bei LUX vollständig auf KI verzichtet hat. Alle Klänge und Stimmen stammen von Menschen: 

„Alles soll sich menschlich, holzig, metallisch anfühlen. Man soll das Gefühl haben, da ist ein Mensch drinnen.“

Viele sahen darin ein Statement. Es ist ein Plädoyer für das Handgemachte, gegen algorithmische Perfektion. In einer Ära künstlicher Stimmen wirkt LUX wie ein Gegenentwurf, digital produziert, aber bewusst menschlich. Rosalía verbindet globale Spiritualität mit handwerklicher Präzision und schafft damit eine Musik, die zeitgenössisch und körperlich zugleich ist. Pop wird zum modernen Mythos.

Er ersetzt keine Religion, aber er erzählt Geschichten über das, was Menschen bewegt. Sehnsucht, Verlust, Glauben und Selbstfindung. LUX erinnert daran, dass Popmusik mehr sein kann als Stil oder Oberfläche. Sie kann Bedeutung schaffen, ohne belehrend zu werden, und Menschlichkeit bewahren, selbst im digitalen Zeitalter.

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