Der Talisman – Stockerau ** Haare machen Leute

Johann Nestroys meistgespieltes Stück ist nicht nur prominent besetzt, sondern auch immer noch aktuell wie vor 185 Jahren.

Rot, Schwarz, Rot, Blond, Rot, Grau, Rot – kein anderer wechselt so oft die Haarfarbe wie Titus Feuerfuchs in „Der Talisman“. Zu verdanken hat er das der Perücke, die ihm ein Frisör schenkt, nachdem Titus sein durchgegangenes Pferd aufgehalten hat. Denn als Rothaariger hatte man zum Zeitpunkt der Uraufführung (1840) einen schweren gesellschaftlichen Stand. Deshalb kommt für Titus das schwarze falsche Haupthaar, das er nun bekommt, gerade recht. Und es wird nicht die einzige Perücke sein, die ihm plötzlich die Türen zu einem herrschaftlichen Schloss öffnet.

Die gesellschaftskritische Komödie – eine Posse mit Gesang in drei Akten – von Johann Nestroy wurde am 16. Dezember 1840 zum ersten Mal aufgeführt und war schon damals ein voller Erfolg. Kein Wunder also, dass sie seither zum meistgespielten Werk des österreichischen Dramatikers avanciert ist, der den Stoff übrigens beim Franzosen Charles Désiré Dupeuty abgekupfert hatte. Die aktuellste Premiere wurde soeben bei den Festspielen Stockerau gefeiert und ist prominent besetzt.

Christoph Fälbl mal schwarzhaarig mit Claudia Rohnefeld . . .
blond mit Ulli Fessl und Nadja Maleh . . .
und grau mit Stephan Paryla-Raky. (c) Johannes Ehn

Knister*Wissen: Dass Johann Nestroy seinen „Talisman“ als Posse mit Gesang in drei Akten bezeichnet wird, bedeutet, dass es sich erstens um ein derb-komisches Stück handelt, wie es im 19. Jahrhundert im Wiener Volkstheater populär war, das sich durch Übertreibungen, Situationskomik und einfache, aber wirkungsvolle Pointen auszeichnet. Zweitens enthält es sogenannte Couplets, also gesungene Einlagen, die von den Schauspielern vorgetragen werden und oft dazu dienen, die Handlung voranzutreiben, Gefühle auszudrücken oder auch bloß das Publikum zu unterhalten. Drittens ist das Stück in drei Akten geschrieben, die Handlung ist also in drei klar abgegrenzte Teile gegliedert.

Rascher sozialer Aufstieg und Absturz

Christoph Fälbl gibt einen gewitzten, situationselastischen Titus Feuerfuchs. Caroline Vasicek überzeugt als verzweifelte rothaarige Salome Pockerl. Claudia Rohnefeld als liebesbedürftige Gärtnerin und Nadja Maleh als arrogante Kammerzofe liefern sich ein beinhartes Duell um den Perückenträger. Dieser verschärft seinerseits die Situation, weil ihm sein allzu rascher sozialer Aufstieg im wahrsten Sinn zu Kopf steigt. Schließlich gibt es ja auch noch die vornehme Gräfin (Ulli Fessl) und deren leicht naive Tochter (Lisa Marie Bachlechner). Und wenn schon Aufstieg, dann gleich richtig. Als Fälbl dann seinen französischen Akzent auspackt, zeigt sich an den Lachern im Publikum, wer ihn Anfang der 2000er-Jahre als Koch Boris in der Comedy-Serie „Dolce Vita & Co.“ gesehen hat.

Der Gärtnergehilfe Plutzerkern (Peter Josch) ist unterdessen plötzlich auf dem Abstellgleis gelandet, beobachtet argwöhnisch das Treiben und überlegt schmollend, wie er den ungeliebten Neuling am schnellsten wieder los wird. Und er ist nicht alleine: Auch der Friseur Marquis (Intendant Christian Spatzek), der irgendwann sein Geschenk bereut, mischt mit, ist er doch mit der Kammerzofe verlobt und kann keinen Konkurrenten gebrauchen. 

Salome hingegen durchschaut als Einzige das Spiel, hütet sich aber, Titus zu verraten. Weil sie genau weiß, vor welcher Ausgrenzung er sich mit seinen Perücken bewahren möchte – und wie schmal der Grat zwischen Triumph und Absturz ist, auf dem er balanciert. Das ist natürlich auch Titus selbst nur allzu bewusst – mitten in dem gefährlichen Spiel, das er hier spielt – bis er sich besinnt, worum es eigentlich gehen sollte.  Durch das Eintreffen seines reichen Vetters Spund (Stephan Paryla-Raky) wendet sich schließlich das Blatt für ihn wieder. Und abermals belehrt uns Nestroy, und zwar ohne den Zeigefinger zu heben, sondern mit seinen bitterbösen Pointen.

Zu verdanken hat er die bunte Haarpracht einem geretteten Frisör (Intendant Christian Spatzek versammelt ein prominentes Ensemble auf dem Stockerauer Kirchenplatz). (c) Johannes Ehn

Zeitlos lehrreich

Sein Wortspiel-verliebter Originaltext ist auch 185 Jahre später nicht nur höchst unterhaltsam, sondern auch unaufdringlich lehrreich. Auch wenn rote Haare heute eher kein Grund für Diskriminierung sind, können sie symbolisch für vieles andere stehen, weswegen Menschen ausgegrenzt werden. Das ist nämlich die Botschaft des Theaterfürsten: Sich nicht vom äußerlichen Schein blenden lassen, sondern unter die Oberfläche schauen und das Gegenüber nicht bloß nach dem Aussehen beurteilen. 

Apropos Äußerlichkeiten: Optisch überzeugt diese Inszenierung nicht nur durch die entsprechenden Kostüme, sondern auch durch die Kulisse. Denn die Häuserfront rund um die gebaute Bühne auf dem Stockerauer Kirchenplatz fügt sich wunderbar in die Kulisse dieser Nestroy-Komödie über Vorurteile, Überheblichkeit, Äußerlichkeiten und Intrigen. 

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