Warum sind Länder außerhalb der EU Teil des Eurovision Song Contest, wie kam’s überhaupt zu diesem Wettbewerb – und warum ist Russland vom ESC ausgeschlossen, aber Israel nicht? Alles zum ESC und den Fragen rund um den Song Contest, die in den letzten Wochen aufgekommen sind.
Im Gegensatz zum common belief, ist der Eurovision Song Contest kein Gesangswettbewerb der EU (das wäre ein organisatorischer Horror, let’s be honest). Er wird von der European Broadcasting Union (EBU) organisiert. Das Ziel der EBU ist es, Entwicklungen im Radio- und Fernsehbereich voranzutreiben und zu standardisieren. Außerdem soll der Austausch zwischen Rundfunkanstalten sowie ein Netzwerk begünstigt werden.
Zusammengefasst: Die Zusammenarbeit und gemeinsame Weiterentwicklung von Medien über Landesgrenzen hinweg. Wie passt der Eurovision Songcontest da hinein, wie kam’s überhaupt dazu – und warum nehmen zum Beispiel Israel und Australien am ESC teil?
DIE EUROPÄISCHE RUNDFUNKUNION (EBU)
Die “European Broadcasting Union” ist ein Zusammenschluss von 68 Rundfunkanstalten in 56 Staaten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens mit Sitz in Genf (Stand Sept. 2023). Außerdem gibt es “assoziierte Sender” aus der ganzen Welt. Die EBU sowie die Internationale Rundfunkorganisation (OIR) sind Nachfolger der Internationalen Radio-Union und entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg.
Knister*Wissen:
1953 übertrug die EBU als erste internationale Live-Sendung ever die Krönung von Königin Elisabeth II., 1956 fand die Ausstrahlung des ersten Eurovision Song Contest statt.
Die Basis der EBU bildet der Weltrundfunkverein. Er wurde 1925 als “Internationale Radio-Union” (IRU) gegründet und regulierte die grenzüberschreitenden Sendefrequenzen europäischer Hörfunksender (also Radios). Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden daraus die “Europäische Rundfunkunion” (EBU) und die “Internationale Rundfunkorganisation” (OIR). 1946 wurde aus der OIR die “Internationale Rundfunk- und Fernsehorganisation” (OIRT). Sie war der Dachverband der Hörfunk- und Fernsehsender in Mittel- und Osteuropa. Nach dem Fall der Mauer wurde die OIRT 1993 aufgelöst und in die EBU eingegliedert.
Zum Nachlesen:
“Radio and Television Broadcasting on the European Continent” - Burton Paulu, S. 141
INTERVISION: DER GEGENPOL ZUM ESC
1960 wurde von der OIRT die “Intervision” gegründet. Sie sollte den Austausch von Fernsehprogrammen der damaligen Ostblockländer und der Eurovision fördern. Die gemeinsamen Übertragungen wurden von der dafür komponierten Fanfare des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch angekündigt. Von 1977 bis 1980 organisierte die Intervision einen eigenen Liederwettbewerb als Konkurrenzveranstaltung zum Eurovision Song Contest.
2008 gab es einen ersten Versuch Russlands, den Intervision-Contest wiederzubeleben – Tahmina Nijosowa gewann für Tadschikistan. 2014 wurde der zweite Versuch aus “politischen Gründen” abgesagt. Nachdem Russland nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 vom Eurovision Song Contest ausgeschlossen wurde, gab es erneute Überlegungen für ein Gegen-Event: Im Februar 2025 hat Wladimir Putin nun ein Dekret unterzeichnet, dass der Intervision-Liederwettbewerb im September 2025 erneut stattfinden soll, diesmal in Moskau. Er soll die “internationale, kulturelle und humanitäre Zusammenarbeit weiterentwickeln”. Angeblich sind 25 Länder an einer Teilnahme interessiert, u.a. sollen ehemalige Sowjetstaaten sowie die BRICS-Staaten China und Brasilien dabei sein.
Zum Nachlesen:
Interview mit dem Intendanten des Deutschen Fernsehfunks, Heinz Adameck - ARD, 16.02.1960
Gespräch zur Tagung des Intervisionsrates in Berlin - ARD, 09.03.1962

DIE GESCHICHTE DES ESC
Seit 1956 wird der Eurovision Song Contest von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) im Rahmen der Eurovision veranstaltet. Die offizielle französische Bezeichnung war anfangs “Grand Prix Eurovision de la Chanson européenne”, später “Concours Eurovision de la chanson”. Die Inspiration kam vom Sanremo-Festival, dem bedeutendsten Musikwettbewerb Italiens und gleichzeitig dem ältesten Popmusikwettbewerbs Europas.
Beim ersten Song Contest am 24. Mai 1956 in Lugano (Schweiz) nahmen nur sieben Länder teil: Niederlande, Schweiz, Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Italien. Österreich und Dänemark wollten teilnehmen, haben aber die Deadline der Anmeldung verpasst – und die UK war zu beschäftigt mit ihrem eigenen Wettbewerb. Seit 1958 findet der Wettbewerb immer im Land des Vorjahressiegers statt. Es gab nur wenige Ausnahmen, zuletzt 2023 (Ukraine).
Tatsächlich ist früher niemand auf die Idee gekommen, dass die Lieder in etwas anderem als der Landessprache gesungen werden könnten – bis Schweden plötzlich in Englisch gesungen hat. 1966 wurde deshalb die Landessprache zur Pflicht erklärt. 1973 bis 1977 wurde die Regel vorübergehend ausgesetzt, seit 1999 darf in jeder beliebigen Sprache gesungen werden. Das Aussetzen der Regel sollte dabei helfen, international erfolgreiche Titel und Sänger*Innen zum Wettbewerb zu schicken.
Seit 2008 werden zwei Vorausscheidungen ausgetragen, aka die Halbfinale. Bisher wurde der Wettbewerb nur ein einziges Jahr ausgelassen: Während der COVID-Pandemie wurde der ESC 2020 in den Niederlanden abgesagt. Der ESC erreicht jährlich mehr als 180 Millionen Zuschauer*Innen.
Zum Nachlesen:
Die Geschichte des ESC - Eurovision
“SOMETHING’S OFF”: STARTPLÄTZE UND VOTING
Die größten Geldgeber der European Broadcasting Union sowie das Gewinnerland des vorigen Jahres haben einen garantierten Startplatz beim Eurovision Song Contest. Dazu zählen immer Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien – aka die “Big Five”. Alle weiteren Plätze im Finale werden an 10 Acts mit den meisten Punkten aus dem Halbfinale vergeben.
Seit 2023 wird das Halbfinale nur mehr durch Publikumsvoting entschieden. Im Finale gibt es zusätzlich das Jury-Voting aller Teilnehmerländer – auch, wenn das eigene Land nicht im Finale sein sollte. Für die Jury gibt es noch zusätzliche Vorgaben: Fünf Expert*Innen, ausgewogen nach Alter, Geschlecht und beruflichem Hintergrund. Sie treffen ihre Entscheidung schon in der zweiten Generalprobe (= ”Juryfinale”) und müssen alle Beiträge in eine Reihenfolge (Platz 1 bis 26) bringen. Seit 2016 werden Jury- und Zuschauerwertungen voneinander getrennt. So kann jedes Land insgesamt 24 Punkte vergeben, wobei das Publikumsvoting immer eine höhere Wertigkeit hat.
Das heutige Punktesystem beim ESC gibt es seit 1975: 1-8, 10 und 12 Punkte. Diese Aufteilung soll den/die Sieger*In klar hervorheben, denn es kam regelmäßig zu Gleichständen. 1969 waren zum Beispiel vier Länder gleichzeitig auf Platz 1.
Zum Nachlesen:
Die Regeln des Eurovision Song Contest - NDR, Stand 18.04.24
Neue Votingregeln nach Unregelmäßigkeiten im Voting 2023 - NDR, 26.11.22

REGENBOGENFAHNEN VERBOTEN?
Ein Gerücht, das sich dieses Jahr stark gehalten hat, war das generelle Verbot der Pride-Flaggen. Dabei betrifft das tatsächlich ausschließlich die Bühnenperformance: Künstler*innen dürfen während ihres Auftritts auf der Bühne nur ihre Nationalflaggen zeigen. Im Zuschauerraum gilt diese Regelung jedoch nicht. Hier darf nach wie vor jede Art von Flagge gezeigt werden (inklusive der palästinensischen), “solange sie keine politischen Botschaften oder Hasssymbole enthalten”.
Zum Nachlesen:
Kann sich Wien den ESC leisten? - Oona Kroisleitner und Harald Fidler in DerStandard, 18.05.25
Die Regeln des ESC - Eurovision, Stand 18.04.25
Der Verhaltenskodex des ESC - Eurovision, Stand 06.05.25
WARUM IST AUSTRALIEN DABEI, WENN SIE NICHT TEIL DER EU SIND?
Grundsätzlich hat jedes EBU-Mitglied das Recht auf eine Teilnahme am ESC, es gibt aber keine Verpflichtung. Im ersten Jahr 1956 nahmen nur sieben Länder mit je zwei Beiträgen teil, danach erhöhte sich das Interesse an der Teilnahme jährlich. Von 1961 bis 1991 nahm Jugoslawien als einziges sozialistisches Land und EBU-Mitglied regelmäßig teil. 1990 wurde die EBU erweitert, seitdem können auch mittel- und osteuropäische Länder teilnehmen. Sie waren zuvor in der “INTERVISION” zusammengeschlossen.
Teilnahmeberechtigt sind die Rundfunkanstaltungen aller Staaten der EBU – in und außerhalb Europas. Neben Israel und Zypern betrifft das auch Georgien, Armenien, Aserbaidschan. Da der ESC in Australien sehr beliebt ist, darf das Land seit 2015 als assoziiertes EBU-Mitglied am Wettbewerb teilnehmen.

„Der ESC ist ein musikalisches Fest der Völker Europas. Er repräsentiert Werte wie Freiheit und Vielfalt und ist ein friedlicher Wettstreit kreativer Köpfe. Wenn ein Teilnehmerland des ESC von einem anderen angegriffen wird, sind wir innerhalb der europäischen ESC-Familie solidarisch. Deshalb ist die Entscheidung gegen die Teilnahme Russlands an dieser Stelle richtig.“ – Patricia Schlesinger (ARD), Thomas Bellut (ZDF), 26.02.22
2022 wurde Russland erstmals offiziell vom Eurovision Song Contest ausgeschlossen. Als Begründung wurden die Regeln des Wettbewerb und die Werte der EBU genannt. Schweden, Dänemark, Norwegen, Island, die Niederlande, Estland und Finnland forderten den Ausschluss, ARD und ZDF begrüßten die Entscheidung.
The EBU has issued the statement below regarding Russia's participation in the Eurovision Song Contest 2022
— EBU (@EBU_HQ) February 25, 2022
Find it online here➡️https://t.co/5xXIYUNmXO#Eurovision #ESC2022 pic.twitter.com/OGjQKtiZfm
RUSSLAND NEIN, ISRAEL JA?
Wegen der Teilnahme Israels wurde der Eurovision Song Contest schon 2024 von Demonstrationen und Boykottaufrufen begleitet. Eden Golan (Israel) hat drei Songs einreichen müssen, bis “Hurricane” freigegeben wurde. “October Rain” sowie “Dance forever” waren aufgrund der politischen Botschaften abgelehnt worden. Aus Protest performte Eric Saade (Schweden) mit einem Keffiyeh um sein Handgelenk, Bambie Thug (Irland) wollte ursprünglich die Worte “Waffenstillstand” und “Freiheit” in ihre Performance einbinden. Deshalb wurde erstmals ein verpflichtender Verhaltenskodex eingeführt. Damit sollte gesichert werden, dass der ESC weiterhin unpolitisch bleibe. Zusätzlich zu diesem Kodex wurde ein Sorgfaltsprotokoll mit Fokus auf die psychische und physische Gesundheit der Acts eingeführt.
“Die EBU ist eine unpolitische Mitgliedsorganisation von Rundfunkveranstaltern, die sich der Wahrung der Werte des öffentlichen Dienstes verschrieben hat. Wir setzen uns weiterhin dafür ein, die Werte eines kulturellen Wettbewerbs zu schützen, der den internationalen Austausch und die Verständigung fördert, das Publikum zusammenbringt, die Vielfalt durch Musik feiert und Europa auf einer Bühne vereint.” – European Broadcasting Union, 25.02.22
Im November 2024 wurde bekannt, dass die Finanzierung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk Israels (KAN) gekürzt werden könnte und der Sender in private Hände fallen könnte. Sollte das tatsächlich passieren, kommt es eventuell zu einem Ausschluss aus der EBU: “According to EBU regulations, a member must have an independent public broadcaster that meets strict criteria for providing quality, independent content, such as news and cultural programming.” Auf diese Nachrichten folgte große Kritik an der Medienlandschaft Israels, inklusive dem Vorwurf, die Regierung wolle den Rundfunk übernehmen und die Pressefreiheit weiter einschränken.

“UNPOLITISCHER” WETTBEWERB
Auch 2025 gab es wieder Aufregung im Vorfeld des ESC: 70 ehemalige Eurovision-Teilnehmer*Innen forderten den Ausschluss Israels vom Wettbewerb. In einem Brief an die European Broadcasting Union (EBU) werfen sie dem israelischen Sender KAN vor, “an Israels Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen mitschuldig” zu sein. Im April 2025 äußerte der spanische Sender RTVE Bedenken an Israels Teilnahme, Island und Slowenien schlossen sich der Forderung nach Ausschluss an. Außerdem äußerten 26 Mitglieder*Innen des Europäischen Parlaments Bedenken an einer Teilnahme Israels – die EBU betonte in ihrer Antwort erneut, dass es ein unpolitischer Wettbewerb “zwischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und nicht zwischen Regierungen” sei.
Dieses Jahr (2025) landete der Song “New Day Will Rise” von Yuval Raphael und dem Israelischen öffentlich-rechtlichen Sender KAN auf dem zweiten Platz. Österreichs Gewinner JJ äußerte sich schon kurz nach seinem Gewinn für einen Ausschluss Israels am ESC 2026 in Wien. Was sich bis zum Eurovision Song Contest 2026 noch tun wird, ob es den israelischen öffentlich-rechtlichen Sender überhaupt noch gibt und vor allem wo der ESC stattfinden wird, bleibt noch abzuwarten. Wir sind auf jeden Fall gespannt!
Zum Nachlesen:
“Warum die EBU Russland nicht einfach ausschließt” - NDR, 25.02.22
EBU Statement zum Ausschluss Russlands - Eurovision, 25.02.22
Israels Text-Änderungen bei dem Song von 2024 - FAZ, 03.03.24
Ausschluss von Israel? - NDR, 22.05.25
Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Führer - Tagesschau, 21.11.24
“How Israel’s government is putting pressure on KAN” - PublicMediaAlliance, 06.02.25
“Netanyahu seeks to advance privatization of Israel’s public broadcaster KAN” - Jerusalem Post, 30.03.25
“JJ wünscht sich Ausschluss Israels” - Spiegel, 22.05.25