Buch der Gesichter von Marko Dinić ist kein klassischer Roman. Er spielt zur Zeit des Ersten Weltkriegs und verweigert bewusst eine lineare Handlung. Stattdessen setzt er auf fragmentarische Szenen, die das Erleben von Krieg, Hunger und Ausgrenzung greifbar machen. Damit bricht der Text mit der Erwartung, dass Literatur Orientierung oder Halt gibt.
Im Zentrum steht Olga Ras, eine jüdische Frau in Zemun – einer damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Stadt an der Donau, heute ein Stadtteil von Belgrad. Ihr Mann Geza schwört noch den Eid auf den Kaiser, verschwindet dann jedoch, bevor er tatsächlich in den Krieg zieht. Zurück bleiben Olga und ihr Sohn Isak.
Ihr Alltag ist eine einzige Abfolge von Überlebensstrategien: Olga zählt Bohnen, um sie zu portionieren, sie stiehlt Milch und Eier beim Nachbarn. Sie poliert Schuhe mit Zwiebelhälften, bevor diese im Kochtopf landen. Der Kampf um Nahrung und Würde ist allgegenwärtig. Symbolisch verdichtet wird dies in der Haggada, einem jüdischen Gebetbuch, das Olga unter den Dielen versteckt. Für den Erzähler ist sie nicht nur ein religiöses Objekt, sondern auch ein Zeichen für Erinnerung, Identität und Widerstand.

Ausgrenzung und Feindseligkeit
Besonders eindrücklich sind die Szenen, die zeigen, wie stark Ausgrenzung schon in den kleinsten Gesten steckt. Isak wird von anderen Kindern gejagt und verspottet. Nicht wegen etwas, das er getan hätte, sondern nur, weil er jüdisch ist. Olga versucht, ihn zu schützen, wird aber selbst zum Ziel der offenen Feindseligkeit ihrer Nachbarschaft.
In einer Episode wird sie öffentlich beschimpft und gedemütigt, während sie eigentlich nur versucht, das Nötigste zu besorgen. Solche Momente sind schwer auszuhalten, gerade weil sie so nüchtern und fast beiläufig erzählt werden, ohne Pathos, ohne Ausschmückung.
Knister*Wissen: Pathos bedeutet, dass bewusst starke Gefühle hervorgerufen oder inszeniert werden, oft mit dramatischem Ton oder überhöhter Sprache.
Ein unversöhnlicher Roman
Die Stärke von Buch der Gesichter liegt in dieser Unerbittlichkeit. Dinić beschönigt nichts, er bietet keinen Trost, keine Versöhnung. Es sind nicht die heroischen Schlachten, die hier erzählt werden, sondern banale, alltägliche Szenen, die durch ihre Härte und Detailgenauigkeit umso mehr erschüttern. Das hat mich am meisten getroffen.
Aus diesen kleinen Details entsteht ein großes Bild davon, wie Krieg und Antisemitismus auf den einzelnen Menschen wirken. Auf eine Mutter, die versucht, ihr Kind zu schützen. Oder auf ein Kind, das schon früh begreifen muss, dass es nicht um Anerkennung, sondern nur um bloße Toleranz in einer feindlichen Gesellschaft geht.
Während man ums Überleben kämpft, muss man gleichzeitig aushalten, verachtet zu werden. “Buch der Gesichter” macht diese doppelte Last spürbar. Es ist kein Roman, den man gern liest, aber einer, der bleibt. Ein Buch, das weh tut, und gerade deshalb so eindringlich ist.
Marko Dinić, Buch der Gesichter. € 19,99 / 460 Seiten. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2025.


