Wie reagiert eine Kleinstadt mit nicht mal 10.000 Einwohner*innen, wenn auf einmal 38 Flugzeuge mit über 6.500 Passagier*innen bei ihnen notlanden müssen?
Der 11. September 2001 ist einer jener Tage, der als Paradebeispiel für den Satz “Da weiß ich noch ganz genau, was ich gemacht hab!” gilt. Davon können auch – im wahrsten Sinne des Wortes – die Einwohner*innen einer neufundländischen Kleinstadt namens Gander im Musical „Come From Away“ (Die von woanders) ein Lied singen. Sie haben nach der Schließung des amerikanischen Luftraums fast 7.000 Menschen, aus den verschiedensten Ländern und Kulturen, bei sich aufgenommen. Und das selbstverständlich mit offenen Armen!
Am 15. November 2025 feierte das Stück im Linzer Musiktheater Österreich-Premiere und begeistert mit einer unglaublichen Geschichte und jeder Menge neufundländischer Folk-Melodien die Besucher*innen.
Nach einer wahren Begebenheit
Die erste Frage, die ich mir nach der Vorstellung stellte, war – frei nach Jonathan Frakes – „Ist diese Geschichte wahr oder frei erfunden?“. Ein kurzer Blick ins Programmheft lässt verraten, dass tatsächlich das Leben oft die besten Geschichten schreibt. Doch das wahrhaftig Großartige an der Musical-Inszenierung ist, dass die Geschehnisse von Gander nicht nur allgemeine Inspiration waren. Sondern, dass die Geschichten der jeweiligen Protagonist*innen tatsächlich stattgefunden haben.

Zum 10-jährigen Jubiläum der Ereignisse reiste das Autor*innenpaar, Irene Sankoff und David Hein, in die kanadische Provinz, um vor Ort Einheimische sowie damals “Gestrandete” zu interviewen und somit Stoff für ihr Musical zu sammeln. Ihr Gepäck war anschließend mit unzähligen Geschichten gefüllt, aus denen man wahrscheinlich 14 weitere Musicals schreiben hätte können.
Für die Haupthandlung mussten sie sich natürlich auf eine Handvoll Geschichten fokussieren. Wovon allerdings jede*r einzelne Interviewpartner*in erzählte, war die unglaubliche Gastfreundschaft und Herzhaftigkeit der unfreiwilligen Gastgeber*innen.
Auch musikalisch ließen sich Irene und David von der Insel inspirieren. Die Einflüsse aus Celtic Folk & Rock geben dem Stück eine für Musicals untypische, dafür aber einzigartige Note, die wunderbar zum Gesamtkonzept des Musicals passt. Einen Hit hat der Soundtrack von „Come From Away“ meiner Meinung nach allerdings nicht.
Klein aber oho…
Ein Satz, der nicht nur auf die Größe Ganders zutrifft, sondern auch auf das Bühnenbild und die Besetzung des Musiktheaters. Denn genauso, wie die Einwohner*innen beweisen, dass man eine Volksschule locker in einen Schlafplatz für 700 Menschen und eine Eishalle in einen riesigen Kühlraum umwandeln kann, beweist das Linzer Musiktheater, dass ein Dutzend Stühle und ein paar Tische alles darstellen können, wenn man es nur will.
Die Bühne selbst besteht aus ein paar Felsen, in denen die Band platziert ist. Im Hintergrund werden mit Hilfe von Videoprojektionen die unendlichen Weiten des Meeres dargestellt. Das Zentrum des Bühnenbilds ist eine Drehscheibe, auf der sich im Prinzip alles abspielt. Man braucht ein Flugzeug? Die Stühle werden in einer Zweierreihe aufgestellt. Für die anschließende Szene im Aufenthaltsraum der Volksschule werden sie ganz einfach in Grüppchen auf der Bühne verteilt.

Diese “girl math”-Methode à la Musicalproduktion zieht sich auch durch die Besetzung des Casts. Für ca. 40 Charaktere braucht man nur 13 Schauspieler*innen. Die Flugkapitänin Beverley (gespielt von Sanne Mieloo) wird ohne Jackett, dafür mit Blumenweste zur Lehrerin Annette. David Rodriguez-Yanez, der gerade noch einen Polizisten aus Gander gespielt hat, wird kurzerhand zum Rabbi.
Dadurch ist auf der Bühne ständig etwas los, weswegen einem das fast zweistündige Stück ohne Pause sehr kurzweilig vorkommt. Großen Applaus an den gesamten Cast, der dadurch fast ständig auf der Bühne ist und die ganzen Szenen- und Charakterwechsel so effortless aussehen lässt.
Mein Fazit
Zugegebenermaßen hatte ich „Come From Away“ (was übrigens die neufundländische Bedeutung für eine*n Nicht-Neufundländer*in ist) vor der Inszenierung des Musiktheaters Linz gar nicht am Schirm. Umso größer ist die Begeisterung jetzt, nachdem ich das Stück gesehen habe.
Es bezaubert mit einer unvorstellbaren wahren Geschichte und berührt mit einer unglaublichen Portion an Menschlichkeit. Und das einfach in Form eines Musicals. Meiner Meinung nach ein ganz klarer Must-Watch!
Gibt es einen Mitschnitt der Broadway Produktion von 2021 auf Apple TV? Ja. Empfehle ich dennoch, in die oberösterreichische Landeshauptstadt zu fahren, da sich die Reise schon alleine wegen des um weiten besseren Bühnenbilds lohnt? Absolut! Und für jemanden, wie mich, die normalerweise immer West End/Broadway-Produktionen den Deutschsprachigen vorzieht, mag das etwas heißen.


