ë – Jehona Kicaj ** Die Suche nach der Stimme

ë (c) Carl Philipp Roth

„Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit“ – aus „ë“ von Jehona Kicaj

Manchmal vermitteln Bücher gerade durch ihre Unaufgeregtheit und das Ungesagte starke Emotionen. Der für den Deutschen Buchpreis 2025 nominierte Roman „ë“ ist ein solches Werk: Fragmentarisch und ruhig erzählt Jehona Kicaj darin von einer jungen namenlosen Frau. Sie flieht noch vor dem Ausbruch des Kosovokriegs 1998 mit ihrer Familie nach Deutschland und wächst zwischen zwei Welten und zwei Sprachen auf. 

Es geht um die Suche nach der eigenen Stimme und Identität, um Verlust und Kriegstraumata, über die nicht gesprochen wird, sowie um Vorurteile, Ignoranz und Unwissenheit über den Kosovokrieg.

Der Krieg, der bleibt

In „ë“ werden das Erbe und die bleibenden Wunden des von 1998 bis 1999 andauernden Kosovokriegs thematisiert. 

„Im Kosovo richtet sich die Zeitrechnung nicht nach der Geburt Christi. Vergangene Jahre werden in zwei Zeitspannen unterteilt: vor und nach dem Krieg.“ 

Auf verschiedenen Erzähl- und Zeitebenen setzt sich die Ich-Erzählerin mit ihrer kosovarischen Herkunft auseinander. Sie erinnert sich an Bruchstücke ihrer Kindheit und versucht, die Erfahrungen ihrer Familie und die historischen Ereignisse einzuordnen. Dabei geht es nicht um eine chronologische Abhandlung und detaillierte Erklärungen, worin auch die Stärke des Buches liegt. Es zeigt, wie Erinnerung funktioniert – fragmentarisch und sprunghaft – und vermittelt gleichzeitig große Emotionen.

Der Roman „ë“ von Jehona Kicaj. (c) Carl Philipp Roth

Die Protagonistin wächst in Deutschland auf, geht hier in den Kindergarten, zur Schule und auf die Universität. Sie bewegt sich zwischen Kulturen und Erinnerungen. Sie ist auf der Suche nach Verständnis, stößt dabei jedoch immer wieder auf Vorurteile, Unwissenheit und Ignoranz. 

Als der Kosovokrieg wütet, erlebt sie ihn in der Diaspora in Deutschland. Kicaj erzählt von dem in Deutschland kaum bekannten Kosovokrieg. Außerdem erinnert sie an das Leid von Familien, die ihre Heimat und Familienangehörige verloren haben, die bis heute nicht gefunden und identifiziert wurden.

Knister*Wissen: Diaspora bezeichnet Gemeinschaften von Menschen, die ihre ursprüngliche Heimat verlassen haben – freiwillig oder gezwungenermaßen – und nun in verschiedenen Ländern leben, dabei aber eine kulturelle, sprachliche oder religiöse Verbindung zu ihrer Herkunftsregion aufrechterhalten.

„ë“ zeigt, wie die Präsenz von Krieg und Tod in der Diaspora weiterlebt – in Familiengesprächen, im Schweigen und der Stille, auf alten Fotos und sogar in den Körpern.

Sprachlosigkeit als Kernelement

Das Buch beginnt damit, dass die Protagonistin eines Morgens mit einem abgebrochenen Stück Zahn im Mund aufwacht. Denn sie knirscht nachts mit den Zähnen: Eines der zentralen Motive des Romans ist ihr Kiefer als Speicher des Kriegstraumas. Sie leidet an Bruxismus, einer Krankheit, die langfristig zu Problemen beim Sprechen führen kann. 

Dieses körperliche Symptom wird zur Metapher für ein Leben zwischen Sprachen, Anpassung und Zugehörigkeit. 

„Dieser Druck, immer versiert genug zu sein, deutlich zu sprechen, nicht den geringsten Fehler zu machen. Kann eine Sprachlast so stark sein, dass sie das Kiefer verformt?“, fragt sich die Protagonistin.

Kicaj erzählt vom Schweigen der Familie, von fehlenden Worten und von der Sprachlosigkeit der Tochter, die sie von ihrem Umfeld übernimmt: 

„Vier Jahre lang habe ich mich nicht gemeldet, obwohl ich fast immer die Antworten kannte. Ich habe mir gewünscht, mein Schweigen könnte mich unsichtbar machen.“ 

Das Trauma des Krieges überträgt sich nicht nur durch Erzählungen, sondern auch durch das Ungesagte, durch Körper, Gesten und Blicke. Das Zähneknirschen ist ihr stiller Widerstand gegen das Vergessen.

Der Buchstabe ë: Stumm, aber wichtig

Zentrales Element des Romans ist das Unausgesprochene, die Sprachlosigkeit, die sich nicht nur in der Kiefererkrankung der Protagonistin wiederfindet, sondern auch im Titel „ë“ – einem Buchstaben aus dem albanischen Alphabet, der eine wichtige Funktion hat, obwohl er meist nur stumm am Wortende steht.

„ë“ ist ein poetisches, emotionales und sehr eindringliches Buch über das, was bleibt, wenn Worte fehlen. Jehona Kicaj schreibt mit feinen Beobachtungen, herzzerreißenden Alltagssituationen und präziser Sprache gegen die Sprachlosigkeit und das Vergessen an. Wer sich auf die unaufgeregte und fragmentarische Erzählweise einlässt, wird belohnt:„ë” ist ein Roman, der einen nicht so schnell los lässt.

Jehona Kicaj, ë. € 22,70 / 176 Seiten. Wallstein Verlag, Göttingen 2025.

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