Zusammenhalt und Kultur für Alle: Volksopern-Chefin Lotte de Beer im Interview

Radikale Verletzlichkeit – das ist das Motto der Saison 2025/26 an der Volksoper Wien. Jedes Jahr wird ein komplett neues Stück in Auftrag gegeben das es davor noch nie gegeben hat. Und jede Spielzeit plant Direktorin Lotte de Beer etwas Neues, um die Opernszene in Wien ordentlich aufzumischen. 

Ein neues Projekt mit zahlreichen Wiener Volksschulen, um nicht-middle class-Kinder zu erreichen (“Wir sind alle Matilda”), neue Stücke, die die Meinungen spalten werden (“Killing Carmen”, “Aschenbrödels Traum”), Klassiker zurück auf der Bühne (“Marie Antoinette”, “Hoffmanns Erzählungen”), ein bisschen Pride und viel auf Augenhöhe: kultur*knistern hat Volksopern-Direktorin Lotte de Beer getroffen, um über ihre Pläne für die nächste Saison zu sprechen. 

Im letzten Jahr war das Thema “Theater ist eine Übung in Empathie”. Was ist das Motto für die nächste Saison?

Die Volksoper ist ein niederschwelliges Opernhaus für das Volk, wo wir Musical, Oper, Operette und Tanz spielen und alle Genres, die irgendwie dazwischen liegen. Wir alle glauben immer, “Ich bin der Protagonist des Lebens” – aber eigentlich sind wir alle Randfiguren vom Leben der anderen. Wir wollen aus der Komfortzone treten, festgefahrene Überzeugungen hinter uns lassen, über uns und die Welt lachen und das Abenteuer angehen, die Welt aus Sicht von jemand anderem zu betrachten. 

Volksoper Wien – das junge Opernhaus Wiens! (c) Barbara Pálffy

An welchem Stück würdest du dieses Gefühl festmachen? 

Man denkt bei neuen Stücken in der Oper oft, dass es kompliziert und intellektuell ist, dass man die Musik nicht nachsingen kann. Aber wir wollen eigentlich Stücke machen, die für ein großes Publikum interessant, witzig und emotional sind. Deshalb haben wir dieses Jahr Martina Eisenreich (Komponistin) und Axel Ranisch (Librettist und Regisseur) gefragt, sich “Aschenbrödel” anzuschauen. Aschenbrödel ist ein halbfertiges Ballett von Johann Strauss über das bekannte Märchen. Und da wir 2025 das Strauss-Jahr feiern, haben sie sich das Stück auf eine neue, verrückte Art und Weise angeschaut.

Aschenbrödel ist hier kein armes Mädchen, sondern ein junger Mann, der gerne mit seiner großen Liebe auf den Opernball gehen will. Er lebt in einer total dysfunktionalen Familie in einem Haus, wo sich zwei Geister herumtreiben: Johann Strauss selbst und der ursprünglichen Librettistin des Märchens. Und dann passiert ganz viel Verrücktes. Musikalisch hört man manchmal sehr Strauss-ige Töne, die aber auf einer singenden Säge mit viel Schlagzeug gespielt werden. Das Haus musiziert mit, Hip Hop-Beats ergänzen das Ganze. Ein bisschen düster, ein bisschen witzig und es stellt das Märchen, das wir alle kennen, komplett auf den Kopf. 

Seit deiner Direktion ist das Programm an der Volksoper jünger, diverser und bunter – genauso wie das Ensemble und das Publikum. Du hast in den letzten zwei Jahren das Opernstudio gegründet und es geschafft, dass 24% der verkauften Karten an U30-Jährige gehen. Hast du noch größere Ziele, oder war’s das jetzt?

Wir sind unglaublich froh, dass einerseits die Leute, die schon immer da waren, geblieben sind.Denn die Abo-Zahlen steigen – und junge Menschen kaufen keine Abos, lass uns ehrlich sein. Das bedeutet es gibt eine Gruppe von treuen Opernliebhaber*Innen, die zufrieden und geblieben sind. Es kommen aber auch neue, junge Leute dazu. Trotzdem gibt es noch viele Wiener*Innen, die noch nie hier waren oder vielleicht keine Ahnung haben, dass es uns überhaupt gibt. Und wir gehen immer weiter, um genau diese Leute zu erreichen.

Wir haben zum Beispiel einen wunderbaren Kinderchor. Die Kinder lernen Musikalität, Kreativität und Disziplin und spielen bei allerhand Vorstellungen mit. Aber wenn man sich den Chor anschaut, ist es super “middle class”: Es sind Kinder, wo die Eltern sehr supportive sind und sich die Zeit nehmen, sie hin und her zu fahren. Das bedeutet, es gibt ganz viele Kinder in Wien, die gar nicht die Möglichkeit haben zu uns zu kommen.

Wer ist Lotte de Beer? 
Lotte de Beer kommt aus den Niederlanden und war mit sieben Jahren das erste Mal in der Oper. Sie kann Schauspielern und Singen – aber vor allem ist sie, wenn sie nicht gerade ihrer Rolle als Direktorin an der Volksoper Wien nachkommt, Regisseurin. Sie ist die erste Direktorin eines Opernhauses in Wien und setzt ihren Fokus ganz klar auf Niederschwelligkeit und Zugänglichkeit. 

Deshalb starten wir das Projekt “Wir sind alle Matilda”: Wir gehen in verschiedene Volksschulen in Wien und unterrichten dort ein Jahr lang Musical, Schauspiel, Gesang und Tanz. Nach dem 1. Jahr bekommen alle Kinder, die besonders motiviert und inspiriert sind und in den Kinderchor überwechseln wollen, die Chance und werden von eigenen Betreuer*Innen hin und her gebracht. Währenddessen geht der Musiktheater-Unterricht an den Schulen weiter. 

Am Ende des Projekts spielen wir auf allen Schulen eine Mini-Variante von “Matilda” und auf der großen Volksopern-Bühne das richtige Musical mit allen Kindern im Publikum. Auf diese Weise versuchen wir selbst ein bisschen diverser zu werden. Die Diversität macht es nämlich auch interessanter und mehrschichtiger – man kriegt so viel Input, so viel Talent, das man sonst nicht finden würde. Und man erreicht Kinder, die sonst vielleicht nie hierher gefunden hätten.

Erfahrungsgemäß ist es ja egal, wie man aufgewachsen ist – wenn man niemanden hat, der einen irgendwie in diese Branche mitnimmt, wird man auch im Alter nicht herkommen. 

Genau. Deshalb planen wir auch mehr Vorstellungen unter der Woche am Vormittag, damit Schulklassen es leichter haben zu kommen, ohne dass die Eltern etwas machen müssen. Da kommen dann zum Beispiel ganze Schulklassen in „West Side Story” und es sitzen 1.300 junge Menschen im Saal. Wir haben schon Briefe von Schulen bekommen, die gesagt haben “Endlich haben wir eine Möglichkeit gefunden, über wichtige Themen zu sprechen, die die Kinder täglich beschäftigen.” Kinder, die Rassismus im Alltag erleben und sich in Toni oder Bernardo wiedererkennen und meinen “Ja, das erlebe ich täglich!”. Das ist so wichtig – und genau deshalb machen wir Theater.

Eine neue Saison mit Lotte De Beer bringt sonnige Aussichten! (c) Barbara Pálffy

Im SWR Musikstudio hast du so schön gesagt, ihr macht “Musiktheater ohne Grenzen für ein Publikum ohne Grenzen”. Was bedeutet diese Grenzenlosigkeit für dich? 

In dieser Zeit macht es so viel aus, wo man geboren ist, was für Eltern man hat, welche Schule man besucht, welche Zeitung man liest. Man begegnet nur mehr Menschen mit der gleichen Meinung oder der gleichen politischen Überzeugung. Es gibt so eine große Distanz zu denen, die anders denken. Im Theater kommt man zusammen: Hier sitzen 1.300 Menschen in einem Raum, die nur ihr Interesse für das Musiktheater gemeinsam haben.

“Wir nehmen kein Stück und überlegen, wie wir das auseinander hacken können, um zu zeigen, wie modern wir sind. Das war in den 90er Jahren eine Tradition. Jetzt muss man zuerst mal die Hand ausstrecken und das Publikum in eine Geschichte mitnehmen, die man erfahren will. In eine Welt, wo man sein Herz öffnen will – und so wohin kommen, wo man vorher noch nie war.” – Lotte de Beer

Drei Stunden lang lebt das Publikum mit den Menschen auf der Bühne mit, die Herzen schlagen im selben Takt zur Musik, man fühlt die gleichen Dinge und ist auf einem Mikroniveau miteinander verbunden. Es ist eine Übung in Empathie und die Möglichkeit, Themen aus einer anderen Perspektive zu sehen.

1869 und 1884 hatte das Theater an der Wien eine Frau in der Co-Direktion – ansonsten gab es noch nie eine weibliche Führungskraft in einem Wiener Opernhaus. Wie war das für dich, in diese Würstelpartie der Wiener Opernszene einzusteigen?

Ehrlicherweise habe ich da nicht so viel darüber nachgedacht. Klar, es ist ein Meilenstein – aber sowas von viel zu spät, dass ich das nicht thematisieren wollte. Natürlich kommt man immer wieder in Situationen, wo man die einzige Frau ist. Oder, dass in Sitzungen nicht gleich auf einen gehört wird, bis es von einem Mann gesagt wird. Dann muss man durchatmen und sich denken “Hauptsache, es wurde gehört”. Ich bin zusätzlich noch Ausländerin und mein Deutsch hört sich nicht so “vernünftig” und intellektuell an. Das macht natürlich auch einen Unterschied. Aber letztendlich geht es um die Sache und um die Menschen, die mit dir arbeiten wollen. In der Volksoper arbeiten wir alle zusammen, auf Augenhöhe und ohne viel “Bullshit”. 

Zum Abschluss: Hast du 3 nischige Fakten über die Volksoper, die niemand außerhalb weiß?

  1. Wir haben die beste Kantine der Welt und lieben sie heiß.
  2. Ich habe das kleinste Büro, das jemals ein Intendant gesehen hat und teile es mit meiner persönlichen Referentin, die praktisch mein Roomie ist.
  3. Wir essen aktuell alle viel zu viele Schokolade!

Eine neue „Saison“ an der Volksoper Wien:
Opernhäuser planen immer von September bis Juni, meist schon Jahre im Voraus. Nun wurde die kommende Spielzeit der Volksoper Wien (September 2025-Juni 2026) vorgestellt. Alle Informationen, neue Projekte und Stücke findet ihr hier

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